Himmelssucher - Roman
damit an.«
»Nicht damit anfangen? Unsere Tochter ist ein wandelndes Gerippe!«
» Abu «, sagte Mina. »Es geht mir gut.«
»Es geht dir nicht gut. Du bist nur noch Haut und Knochen.«
Mina nahm sich einen Keks vom Teller in der Mitte des Tisches und biss davon ab. »Siehst du, ich esse.«
Rafiq schüttelte den Kopf und zwinkerte dabei – wenn das überhaupt möglich war – noch mehr als sonst. Er sah zu Sunil, dann zu meinen Eltern. »Ich muss euch danken, Naveed und Muneer, für alles, was ihr getan habt. Gott weiß, dass sie nicht einfach ist … aber, ehrlich gesagt, ihr hättet euch ein wenig besser um sie kümmern können …«
Vater reagierte nicht darauf. Er nickte noch nicht einmal. Er hatte sich an diesem Nachmittag vollständig zurückgezogen und den Tisch dem älteren Rafiq überlassen.
» Abu , das hat nichts mit ihnen zu tun«, sagte Mina. »Sondern nur mit mir. Es ging mir nicht besonders.«
»Und warum ist das so?«, fragte Rafiq.
»Onkel Rafiq«, schaltete sich Mutter ein, »sie hat viel durchgemacht.«
»Ach ja?«, erwiderte Rafiq. Sein Kommentar troff nur so vor Sarkasmus. »Und was, wenn ich fragen darf? Sie lernt einen netten Mann kennen …«, und dabei tauschte er ein Lächeln mit Sunil aus, »der sie so nimmt, wie sie ist, und ihr ein neues Leben anbietet? Was ist daran so schwierig?«
»Schluss!«, kam es von Mina.
Aufgeschreckt drehte sich Rafiq zu ihr hin.
Und auch Sunil meldete sich zu Wort. Streng sagte er zu Mina: »Er macht sich Sorgen um dich. Und ich auch.«
Minas Blick ging zwischen den beiden hin und her. »Gut«, sagte sie und nahm einen Schluck Tee.
Rafiq allerdings sah sie nach wie vor unverwandt an.
»Ich sagte gut, Abu «, wiederholte Mina.
Rafiq schien sich damit zufriedenzugeben. Energisch zwinkernd wandte er sich an Sunil. »Ich erwarte von dir, dass du sie herausfütterst, Behta .«
Lächelnd zwinkerte Sunil zurück.
»Erste Klasse, Abujee . Erste Klasse«, erwiderte er mit plötzlicher und unerklärlicher Ausgelassenheit. »Mach dir darüber keine Sorgen.« Sunil griff zum Tablett, nahm sich einen Keks und legte ihn auf Minas Teller. »Iss noch einen«, sagte er.
Rafiq lächelte breit und zeigte dabei die obere, gelblich verfärbte Zahnreihe. Er sah zu Mina und wartete, was seine Tochter tun würde.
Mina starrte ihren Vater an. Es knisterte förmlich vor Spannung.
»Tu, wie dein angehender Mann dir sagt«, sagte Rafiq leise. »Iss ihn.«
Mutter sah verstohlen zu mir. Vater starrte auf den Tisch.
Schließlich senkte Mina den Blick, nahm sich den Keks und schob ihn sich in den Mund.
»Was für ein Tyrann«, zeterte Mutter nach dem Tee, nachdem Minas Eltern nach oben in mein Zimmer gegangen waren, um sich auszuruhen. (Während ihres zweiwöchigen Aufenthalts sollte ich im Fernsehzimmer schlafen.) »Zwingt sie, diesen Keks zu essen! So hat er es schon immer mit ihr gemacht. Mit seinen Söhnen nie, immer nur mit ihr. Und hast du Sunil gesehen, wie er dort gesessen hat? Hat sich gar nicht mehr eingekriegt! Am liebsten hätte ich ihm eine gescheuert!«
Wir standen am Spülbecken. Ich trocknete das Porzellan, sie schrubbte die Innenseite der Teekanne. Durch das Küchenfenster sah ich Sunil und Vater im Garten hinter dem Haus. Sunil hielt Imran an der Hand, während er sich mit Vater unterhielt.
»Rafiq hat einen Napoleon-Komplex«, sagte Mutter. »Du weißt, wer Napoleon war, oder?«
Ich wusste nur so viel über ihn, um einen General aus einem anderen Jahrhundert vor mir zu sehen, der eine Hand in seinen Mantel geschoben hatte. Das war dann auch schon alles.
»Ein Winzling. Nur so groß«, sagte Mutter und deutete mit der Hand an, dass er nur ein wenig größer war als ich. »Und dieser Zwerg erobert ganz Europa. Er hätte die Welt beherrschen können. Und weißt du, warum? Weil ein solcher Mann, der glaubt, dass die ganze Welt auf ihn herabschaut – und wenn man ehrlich ist, tut sie das doch auch –, weil ein solcher Mann vor nichts haltmacht, damit die Welt ihm Respekt entgegenbringt. Und wenn er sie erobern muss, damit er sich selbst beweisen kann! Du siehst also, nimm dich vor kleinen Männern in acht! Sie wollen immer etwas erobern!« Sie gab mir die Teekanne zum Abtrocknen. »Das nennt man Napoleon-Komplex, Kurban . Und wenn ein muslimischer Mann einen solchen Komplex hat, ist die Katastrophe vorprogrammiert! Ich hoffe bei Gott , dass Sunil wenigstens dem Jungen ein guter Vater ist … noch gibt es keinen Grund, daran zu zweifeln. Er geht
Weitere Kostenlose Bücher