Himmelssucher - Roman
er.
»Übermorgen«, antwortete ich.
Er zuckte mit den Schultern und verschwand im Inneren.
Ich sah mich um. Die Bäume in den umliegenden Gärten sahen überhaupt nicht wie Bäume aus. Die nackten, nassen, schwarzen Stämme vermittelten im schiefergrauen Licht den Eindruck, als wären sie aus Stein. Es war eine kalte, glatte Welt, und ich war dabei, das Einzige zu verlieren, das ich jemals geliebt hatte.
15
DER ABSCHIED BEGINNT
D ie Hochzeit wurde auf den Tag nach Thanksgiving angesetzt. Mina hatte auf einer kleinen, schlichten Zeremonie bestanden, Chatha hingegen scheute keinerlei Kosten bei der Vermählung seines Vetters: Er und Najat luden mehr als zweihundertfünfzig Gäste ein; er buchte den opulenten, mit Kronleuchtern ausgestatteten Ballsaal des todschicken Atwater Hotel in der Innenstadt; er ließ sogar einen Koch aus seinem Dorf in Pakistan einfliegen, der das Menü zubereitete. Als Mina von dem Koch erfuhr, hatte sie mit Sunil ihren ersten Streit.
Eines Abends beschwerte sie sich bei Mutter über das viele Geld, das Ghaleb ausgab, und war sichtlich verblüfft über Mutters Antwort.
»Ghaleb und Najat wissen, was er durchgemacht hat … Du bist ein Glücksgriff. Schau dich an. Sie wollen mit dir angeben. Damit sein verletzter Stolz heilen kann, nach allem, was ihm seine erste Frau angetan hat … Vielleicht steckt da mehr Scharfsinn dahinter, als dir bewusst ist. Wo ist das Problem, wenn er für sein Selbstwertgefühl eine große Hochzeit braucht? Sie kommen doch für die Rechnung auf! Genieß es also!«
»Ich will nicht, dass sie denken, ich wäre hinter seinem Geld her.«
»Aber das bist du.« Mutter lachte.
» Bhaj . Bitte. Es ist noch nicht mal sein Geld …«
Mutter verzog das Gesicht. »Hast du überhaupt keinen Sinn mehr für Humor?«
Mina zuckte mit den Achseln. »Du weißt, warum ich das mache. Für Imran.«
»Dann musst du in den sauren Apfel beißen.« Nach einer Pause fügte Mutter an: »Könnte schlimmer kommen. Du könntest ja auch eine von vieren sein.«
Mina gluckste. »Du weißt ja gar nicht, wie unerträglich Najat wirklich ist …«
»Schwiegerleute sind immer unerträglich.«
»Sunil behandeln sie noch schlimmer. Er beschwert sich ständig, wie er von Ghaleb herumkommandiert wird.«
»Ghaleb zahlt die Rechnungen.«
»Aber kein Vergleich zu dem, was sie von Naveed und dir denken.«
»Was sagen sie über mich?«
»Dass du einen Schuss hast.«
»Ich habe einen Schuss?«, wiederholte Mutter. »Was soll das heißen?«
»Nichts. Es heißt gar nichts.«
»Einen Schuss? Von schießen?«
»Ich glaube schon.«
»Najat wäre zum Schießen, wenn sie nicht so eine Duckmäuserin wäre. Nicht ich.«
»Sie lässt mich wegen meiner Haut nicht in Ruhe.«
»Na ja, irgendwas stimmt mit deiner Haut auch nicht. Du isst nicht richtig.«
Mina seufzte. »Ich will das alles bloß hinter mich bringen.«
»Einen Schuss?«, wiederholte Mutter.
»Vergiss es, Bhaj . Für eine Frau wie dich fehlt ihnen jegliches Verständnis.«
»Für Frauen wie uns . Du bist genauso. Wenn nicht sogar noch schlimmer.«
Es folgte eine lange Pause. »Da hast du recht«, erwiderte Mina schließlich.
An diesem Abend kam ich zu Mina ins Zimmer und hoffte, sie würde mir eine Geschichte erzählen. Sie saß auf dem Bett und hatte ein Buch auf dem Schoß, und ihre Augen waren gerötet und geschwollen.
»Alles in Ordnung, Tante?«
»Ja, Behta «, erwiderte sie und schüttelte müde den Kopf. »Kannst du deiner Tante ein Glas Wasser holen?«
»Mmm-hmm.«
Ich ging nach unten in die Küche, füllte ein Glas mit Leitungswasser und brachte es ihr ins Zimmer. Sie schnäuzte sich die Nase und warf das Tissue auf den Boden. Ich reichte ihr das Glas.
»Danke«, sagte sie leise. Imran schlief in seinem Bett.
»Bitte. Alles in Ordnung, Tante?«
Sofort traten ihr Tränen in die Augen. Sie griff nach einem weiteren Tissue und trocknete sich die Augen. »Es ist nichts«, sagte sie. »Nur etwas, was ich gelesen haben.«
»Was?«, fragte ich und sah auf das aufgeschlagene Buch. Der Text war nicht in Englisch – die Schrift sah für mich wie Arabisch aus –, aber es war auch nicht der Koran.
»Es ist Dschamis Nafahat .«
»Was ist das?«
»Es handelt vom Leben der großen Sufis. Ich habe über Kharaqani gelesen, und …« Plötzlich blieben ihr wieder die Worte im Hals stecken.
»Schon gut, Tante. Du musst es mir nicht erzählen.«
»Nein«, sagte sie kopfschüttelnd. »Ich will es dir erzählen … Hier. Setz
Weitere Kostenlose Bücher