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Himmelssucher - Roman

Himmelssucher - Roman

Titel: Himmelssucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: carl's books Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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dich.« Ich nahm neben ihr Platz. »Ich werde es dir übersetzen.«
    »Welche Sprache ist das, Tante?«
    »Persisch.«
    »Persisch? Ich wusste nicht, dass du das kannst.«
    »Es gibt vieles, was du nicht über mich weißt, mein Lieber.«
    Ich verstummte. Nie war mir der Gedanke gekommen, dass es Dinge gab, die ich über meine geliebte Mina nicht wusste – und vielleicht auch nie erfahren würde.
    »Das ist eine Geschichte über Ansari«, sagte sie und deutete auf die Seite. Mir fiel auf, dass sie nicht den Ring trug, den ich bei Sunils Besuch an ihrem Finger gesehen hatte. »Ansari war einer der großen Sufi-Dichter, Hayat. Als junger Mann hatte er einen Lehrer, einen alten Weisen namens Kharaqani. Und von Kharaqani lernte er alles, was es heißt, ein Sufi zu sein.« Langsam begann sie den Text zu übersetzen. »›Hätte ich Kharaqani nicht kennengelernt‹, sagt er, ›hätte ich Gott nie kennengelernt. Von Kharaqani lernte ich, dass man einen Sufi nicht nach seiner Kleidung beurteilen kann. Man ist nicht deshalb ein Sufi, weil man zerrissene Kleidung trägt oder einen Bart hat oder einen Gebetsteppich.
    Ein Sufi zu sein‹«, fuhr sie fort, »›bedeutet, die Welt und alles in ihr aufzugeben. Ein Sufi zu sein bedeutet, von nichts abhängig zu sein, nichts zu wollen, nichts zu sein. Ein Sufi ist ein Tag, der keine Sonne braucht, eine Nacht, die keinen Mond, keine Sterne braucht. Ein Sufi ist wie der Staub auf dem Boden, nicht die Steine, die den Menschen Schmerzen zufügen, wenn sie darauf treten, sondern der Staub, von dem niemand weiß, dass er überhaupt da ist.‹«
    Mina begann zu weinen, und dieses Mal versuchte sie nicht mehr, die Tränen zurückzuhalten. Ich umarmte sie. Ich spürte ihre harten Knochen, auf denen kein Fleisch mehr war, das man hätte tätscheln können. »Das, Behta , ist das, was uns das Leben antut. Es zermalmt uns. Es zermalmt uns zu Staub. Ein Sufi ist jemand, der sich dagegen nicht wehrt. Er weiß, dass es nicht schlecht ist, wenn man zu einem Nichts zermalmt wird. Es ist der Weg zu Gott.«
    Ich verstand nicht recht, was sie mir sagte. Aber wie bei der Geschichte des Derwisch und seiner Orangenschalen würde ich so schnell nicht die seltsamen Bilder – Tag ohne Sonne, Nacht ohne Mond, Gott und Staub – vergessen und natürlich auch nicht die erschreckende Vorstellung, dass der wahre Weg zu unserem Herrn darin bestand, zu einem Nichts zermalmt zu werden.
    Mina aß nichts. Wochenlang schien sie fast ausschließlich von Tee zu leben. Mutter tat, was sie konnte, häufig zwang sie Mina, länger am Esstisch zu bleiben, während alle anderen schon fertig waren, damit sie noch einen kleinen Happen von ihrer kaum angerührten Mahlzeit zu sich nahm. Ich sah Mutter neben ihr sitzen und ihrer besten Freundin eine Gabel mit Reis und Curry in den Mund schieben. Aber selbst wenn Mina Nahrung zu sich nahm, widersetzte sich ihr Körper. Mehr als einmal hörte ich, wie sie sich nach dem Essen im Badezimmer übergab. Meine Eltern machten sich furchtbare Sorgen. Vater brachte Glukosepulver aus dem Labor mit nach Hause, das wir ihr in den Tee mischten; Mutter ging mit ihr zu einer Reihe von Spezialisten. Alle Ärzte glaubten, Minas Problem sei psychischer Natur, und sie brauche eine Therapie. Mina lehnte ab.
    »Therapie ist nicht die Lösung, Bhaj «, teilte sie Mutter mit. »Ich muss die Heirat hinter mich bringen. Wenn die erst mal vorbei ist, geht es mir wieder gut.«
    »Wenn du es bis dahin noch schaffst«, entgegnete Mutter.
    Es stimmte, man musste sich Sorgen machen, ob sie noch solange durchhalten würde. Mitte November, etwa zehn Tage vor der Hochzeit, sah Mina ziemlich seltsam aus. Ihre Gesichtshaut war nur noch eine mattgelbe, straff über den Schädelknochen gespannte Membran. Selbst ihre einst so strahlenden Augen hatten etwas Gelbsüchtiges an sich. Sie sah immer unwirklicher aus. Die Verwandlung ihres Körpers verlieh ihrem Gesicht etwas Unheimliches, das mich jetzt ebenso faszinierte wie früher ihre lebhafte, umwerfende Schönheit. Vielleicht war ich auch nur bestürzt über diese Auszehrung, die sich vor meinen Augen vollzog – Mina hatte sich so sehr verändert, dass noch nicht mal ihre Eltern sie erkannten, als sie von ihr am Flughafen abgeholt wurden. Vielleicht hatte sie aber auch etwas Neues, Verzauberndes an sich, etwas zugleich Verzweifeltes und Lebendiges; eine Frau, die den nahenden Niedergang ahnte, deren Glanz in der Erwartung dessen eher noch zunahm und deren Leuchten

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