Himmelssucher - Roman
Raum mit einem geöffneten Sarg wiedergefunden hatte. Er beschrieb sein Entsetzen, als er an den Sarg trat und feststellen musste, dass darin eine tote junge Frau in einem enganliegenden Kleid lag, das Gesicht über und über mit Make-up bedeckt und in Parfüm gebadet, was den unangenehmen Geruch, den ihr Körper verströmte, aber nicht ganz überdecken konnte.
»Als würde sie sich zum Ausgehen herrichten!«, mokierte sich Rafiq. »Mit wem will sie sich denn treffen? Sie ist tot!«
»Das ist für die Familie und die Freunde«, erklärte Mutter. »Es gibt für alle eine Party, damit sie den Leichnam ein letztes Mal sehen können, bevor er beerdigt wird. Das ist hier so Brauch.«
»Party?«
»Es ist keine Party«, korrigierte Vater. »Man nennt es Totenwache.«
Rafiq runzelte die Stirn. »Nun, Naveed- Behta . Wie du gesagt hat, weiß man hier, wie man sich um die Dinge kümmern muss – aber haben es die Toten wirklich nötig, dass man sich so um sie kümmert?« Rafiqs Ton war herausfordernd. Aber Vater schwieg. Schließlich zuckte er mit den Achseln und sah weg.
Rafiq schien zufrieden. Er wandte sich an Mina. »Sie hat ein bisschen so ausgesehen wie du, Behti . Dunkle Haare … aber lang nicht so abgemagert, nicht so klapperdürr wie du.«
Überrascht sah Rabia auf. »Wie kannst du so was nur sagen, Rafiq!«
Rafiq zuckte mit den Schultern.
»Und sieh doch!« Rabia deutete auf ihre Tochter. »Sie isst!«
Es stimmte. Mina mühte sich durch ihre Mahlzeit und hatte schon die Hälfte davon verspeist.
» Totenwache «, sagte Rafiq dann nach einer Weile wie zu sich selbst. »Was für ein sonderbarer Ausdruck. Die Tote ist doch nicht wach . Sie ist tot. Und trotzdem tun sie so, als wäre sie wach .«
»Es heißt nicht wach , sondern Wache, Sahib «, sagte Vater. »Es ist ein Substantiv, kein Adjektiv.«
Rafiq sah ihn verständnislos an.
»Nicht die Tote ist wach, sondern die Lebenden halten eine Wache.«
Rafiq winkte nur ab. »Substantiv, Adjektiv, spielt doch keine Rolle. So oder so, die arme Frau wird ziemlich überrascht sein, wenn sie bemerkt, wo sie sich befindet, wenn die Party vorbei ist.«
Mutter war deprimiert. Mina war ihr wie ein Rettungsanker gewesen. Durch ihre Anwesenheit wurde Mutter nicht nur von Vaters Affären abgelenkt – ein ständiger Stein des Anstoßes –, sondern sie empfand auch ihr Leben in Amerika weit weniger einsam. Sie redete nicht viel darüber, aber sie litt schrecklich an Heimweh – was mir erst bewusst wurde, nachdem Mina schon lange fort war und Mutter ihr Leben mit Erinnerungen an ihre Heimat vollstopfte: Regale und Wände quollen über mit pakistanischem Kunsthandwerk, den lieben langen Tag liefen auf der Stereoanlage Ghasele, dazu kamen die indischen Filme, in denen sie sich scheinbar tagelang verlieren konnte.
Mutters Stimmung in jenem Herbst wurde noch trübseliger, als sie von den Hochzeitsvorbereitungen völlig ausgeschlossen wurde. Bis zu einem gewissen Grad traf das auch auf Mina zu. Obwohl Mutter ihrer besten Freundin geraten hatte, sich den Chathas in allem zu fügen, fiel es Mutter schwer, sich selbst an ihren eigenen Rat zu halten, als Ghaleb und Sunil aus ihrer eklatanten Missachtung unserer Familie keinen Hehl mehr machten. Zu spät wurde ihr bewusst, dass der Schuss nach hinten losgegangen war, als sie versucht hatte, gegenüber Sunil ganz klar die Grenze zu ziehen. Ihren Anspruch, in Minas Leben eine zentrale Rolle zu spielen, konterte Sunil genau mit dem Verbot, das Mutter befürchtet hatte: Er machte seiner Verlobten klar, dass er Mutters Namen in seiner Gegenwart nicht mehr hören wollte. Als Mutter davon erfuhr, gab sie klein bei. Sie rief Sunil an und entschuldigte sich bei ihm. Seine Antwort war alles andere als entgegenkommend: Er sagte Mutter, er würde zwar ihrer Freundschaft zu Mina nicht im Weg stehen, sehe aber nicht den geringsten Grund, warum er darüberhinaus mit Mutter irgendetwas zu schaffen haben sollte.
Mutters Auseinandersetzung mit Sunil führte schließlich dazu, dass sich auch Najat gegen sie wandte. Nach allem, was geschehen war, wollte sich Mina mit den Buledis aussöhnen. Vater hatte sie davon überzeugt, dass Sonny mit dem Telegramm nichts zu tun haben konnte – schließlich war er angeblich selbst ein Kafir –, und Mina kam zu dem Schluss, dass es angemessen wäre, die Buledis als Geste ihres guten Willens zur Hochzeit einzuladen. Das einzige Problem war nur: Sie wollte die Sache nicht mit ihren Schwiegerleuten besprechen.
Weitere Kostenlose Bücher