Himmelssucher - Roman
eine Weile, bis ich meinen Vater erkannte.
Er hörte ihr zu, während sie etwas erzählte. Er schien nur noch Augen für sie zu haben. Dann nippte er an einem Drink und nickte. Er sah glücklich aus. Sie beide sahen glücklich aus.
Und dann küsste er sie.
Als hätte er etwas gespürt, stutzte mein Vater und sah zum Fenster. Unsere Blicke trafen sich. Er erstarrte. Dann drehte sich auch die Frau um. Jetzt erkannte ich sie. Es war die Schwester aus dem Krankenhaus. Julie.
»Was machst du da, Hayat?«, fragte Hamza. »Was stehst du da rum?«
»Gehen wir«, rief ich und rannte in Richtung Hotel.
»Was ist los? Alles in Ordnung?«, keuchte Hamza, während er mir hinterhereilte.
Ich rannte voraus, mein Blut pochte in den Ohren. Wir waren fast beim Atwater, als ich hinter mir die Stimme meines Vaters hörte. »Hayat!«
Hamza verlangsamte seine Schritte und drehte sich um.
»Los, gehen wir«, sagte ich.
»Wer ist das?«
»Wen interessiert das?«, rief ich ihm zu und stapfte weiter.
»Hayat! Komm zurück!«, hörte ich meinen Vater wieder.
Ich blieb nicht stehen. »Fahr zur Hölle«, murmelte ich und trat durch die Drehtür des Hotels.
Während sich das alles zutrug, wurde Mina in einem Hotelzimmer im neunten Stock getraut. Die Geschichte des dramatischen Hochzeitsnachmittags wurde Teil ihrer Legende, eine Episode, die Mutter in den Folgejahren immer wieder erzählen sollte.
Es begann mit Kopfschmerzen.
Kurz nach Ankunft in ihrer Hotelsuite am Nachmittag beklagte sich Mina, dass sie sich nicht wohl fühle. Ihr tue der Kopf weh, ihr sei schwindlig. Später bat sie Mutter, ein Fenster zu öffnen. Mutter kam dem Wunsch nach. Dann bat Mina sie um ein Glas Wasser. »Aber kalt, Bhaj . Sehr kalt.«
Mutter nahm den Eiskübel aus dem Badezimmer und eilte hinaus in den Flur zur Eismaschine. Dabei ging plötzlich die Tür zu Najats Zimmer auf, und Najat erschien, völlig verhüllt in ihrer schwarzen Burka.
Mutter erschrak kurz.
»Welche Zimmernummer, Muneer?«, fragte Najat. In der Hand hielt sie die Tasche mit Minas Brautschmuck.
»Tausendvierzehn«, sagte Mutter. »Auf halber Länge des Gangs.«
Mutter sah Najat hinterher, die mit sich bauschendem Tschador über den Flur schwebte. Najat blieb vor der Tür sehen, klopfte und trat ein.
Als Mutter mit dem Eiskübel zurückkam, war Mina mitten in einer heftigen Panikattacke. Sie saß auf der Couch, versuchte sich schwer keuchend aufzurichten, während sie von Rabia, ihrer Mutter, niedergedrückt wurde.
»Aber wo willst du denn hin, Behti ?«
»Ich muss raus«, wiederholte sie ständig. »Ich muss raus.«
»Wo willst du denn hin?«
»Irgendwohin … Bhaj !«, kreischte sie plötzlich, als sie Mutter erblickte.
»Was ist denn los?«
»Ich muss raus hier.«
»Rabia, lass sie los«, sagte Mutter scharf.
Rabia sah zu Najat – die ihre Burka ausgezogen hatte –, und Najat nickte. Rabia ließ ihre Tochter los.
Mina stürzte zum Fenster, lehnte sich gegen des Fensterbrett und atmete tief und hastig ein. Dann riss sie das Fenster noch weiter auf.
»Was tust du da?«, schrie Rabia.
»Luft schnappen!«, schrie Mina zurück. »Ich brauche frische Luft.«
Erst als Mina ein Bein auf die Klimaanlage stellte, wurde Mutter klar, was sie vorhatte. »Nicht!«, rief Mutter, eilte ans Fenster und zog ihre Freundin zurück.
Najat und Mutter hielten Mina fest.
»Ich muss raus, ich muss raus«, japste Mina.
Aber lange wehrte sie sich nicht mehr. Najat führte sie zur Couch, und Mutter ging ins Badezimmer, um ihr ein Glas Wasser zu besorgen. Als sie zurückkam, streckte Najat ihr auf der offenen Handfläche ein kleine, hellblaue Tablette entgegen.
»Was ist das?«, fragte Mutter.
»Valium.«
Mutter gab Mina das Wasser; Najat schob ihr die Tablette hin.
»Nimm sie. Dann geht es dir besser.«
Rabia, die sich neben ihrer Tochter niedergelassen hatte, nahm die Tablette und hielt sie Mina an den Mund.
Mina sah zu ihrer Mutter, ihr Brustkorb hob und senkte sich, dann schloss sie die Augen und öffnete die Lippen. Rabia schob ihrer Tochter die Tablette in den Mund. Mutter hielt ihr das Glas an die Lippen.
Mina trank und schluckte.
»Warte zehn Minuten«, sagte Najat. »Und es wird dir gut gehen. Du wirst schon sehen.«
»Woher hast du die?«, fragte Mutter Najat.
»Ich hab sie immer dabei«, sagte Najat leise. »Ich leide seit Jahren unter Panikattacken. Ich weiß nicht, was ich ohne die Tabletten machen würde.«
Najat hatte recht. Nach zehn Minuten entspannte sich
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