Himmelssucher - Roman
finden. Mutter, ich, Rafiq, Rabia und Imran mussten zusehen, wie wir nach Hause kamen. Sowohl im Taxi als auch den gesamten Abend über kochte Mutter vor Wut. Kein einziges Mal erwähnte sie die Koran-Rezitation. Als hätte sie gar nicht stattgefunden.
Nachdem alle im Bett waren, rollte ich mich im Fernsehzimmer auf der Couch zusammen, wo ich seit Tagen schlief. Ich versuchte nicht an meine Demütigung auf der Walima zu denken, aber die ganze Zeit hatte ich Farhaz im Ohr:
Was für ein Idiot! Er glaubt wirklich an den ganzen Mist!
Irgendwann musste ich eingeschlafen sein. Als ich aufwachte, saß Vater neben mir in der Dunkelheit. Seine Hand lag auf meiner Schulter.
» Behta , wach auf«, flüsterte er. Er sah erschöpft aus, seine Augen waren gerötet. »Alles in Ordnung?«
»Mmm-hmm.« Ich nickte.
Lange starrte er mich nur an. »Ich will, dass dir eines klar ist. Ich bin gegangen, weil mich das alles nur angewidert hat. Es hat mich angewidert, was sie deiner Tante und was sie dir angetan haben. Diese Leute sind Idioten. Idioten. Und sie lässt es zu, dass sie genauso wird wie sie.« Er sprach sehr langsam, bemühte sich, die Worte deutlich auszusprechen, verschliff sie aber trotzdem. »Ich weiß, es geht um Glaubwürdigkeit. Ich weiß, dass es mit meiner Glaubwürdigkeit nicht weit her ist. Ich weiß es.«
Ich war verwirrt und wusste nicht, wovon er sprach.
Nach einer Pause fuhr er fort: »Ich weiß, was du und deine Mutter von mir haltet. Aber ich will, dass du eines verstehst. Ich bin ein erfolgreicher Mann. So etwas wird man nicht so einfach. Es gibt keine Garantie auf Erfolg. Und das heißt, egal, was du von mir hältst, dass ich über ein paar Dinge Bescheid weiß. Und egal, was sie von mir hält, die Wahrheit lautet: Ich kann nicht so töricht sein, wie die Leute behaupten … Wenn das, was ich sage, für dich irgendeine Bedeutung hat, dann musst du mir vertrauen. Ich bin nicht töricht. Siesind es. Diese Leute, sie sind töricht. Nicht ich. Und duauch nicht. Hayat, ich will, dass du das verstehst – egal, was sie dir heute weismachen wollten, du bist kein Dummkopf. Diese Leute sind wie Schafe, immer laufen sie den anderen hinterher, immer warten sie auf jemanden, der ihnen sagt, wo es langgeht. Alle. Sie sind alle gleich. Sogar Souhef.«
Wieder hielt er inne. Er wurde zunehmend aufgewühlter. Als er sich zu mir vorbeugte, konnte ich den Alkohol in seinem Atem riechen.
»Ich habe gesehen, wie du mit ihm nach der Rezitation gesprochen hast«, sagte er. »Was hat er gesagt?«
»Er hat gesagt, dass es nicht zählt, wenn man den Koran auf Englisch kann.«
»Genau deswegen verabscheue ich diese Leute, Hayat«, sagte Vater wütend. Er blinzelte mich an. »Ich weiß, du wirst nicht verstehen, was ich dir jetzt sage … Aber du gehörst nicht zu ihnen. Du bist keiner von denen. Das ist die Wahrheit. Ich weiß, du verstehst nicht, warum ich deinen Koran verbrannt habe. Ich habe es getan, weil du anders bist. Du kannst nicht nach den Regeln leben, die andere dir vorgeben. In dieser Hinsicht sind wir uns gleich. Du wirst deine eigenen Regeln finden müssen. Mein ganzes Leben lang bin ich vor ihren Regeln davongelaufen, Hayat. Mein ganzes Leben. Bei dir wird es genauso sein. Frag mich nicht, woher ich das weiß, aber ich weiß es.«
Ich musste an meinen Traum mit dem Propheten denken, in dem ich davongelaufen war und Mohammed in der Moschee zurückgelassen hatte. Eine Sekunde lang glaubte ich, nicht nur Vater, sondern auch den Traum zu verstehen. Aber diese Klarheit verflüchtigte sich so schnell, wie sie gekommen war.
»Deshalb verabscheue ich diese Leute, Hayat«, wiederholte er. »Sie begreifen nicht, warum sie hierher gekommen sind oder wozu sie hier sind. Sie wissen nicht, wer sie sind oder was das Leben ist. Sie sind solche Narren.« Er spie das Wort verächtlich heraus. »Hör nicht auf sie. Auf ihre Geistlosigkeit, ihre Dummheit. Verstehst du jetzt, warum ich sie so hasse? Verstehst du das?« Er hielt mich fest und blinzelte, als fiel es ihm schwer, mich zu sehen, obwohl ich doch nur wenige Zentimeter vor seinem Gesicht war. »Verstehst du das?«, sagt er noch einmal, und seine Stimme brach. Er klang wie ein Kind. »Siehst du nicht, was sie ihr antun?«
Und dann begann er zu weinen.
Ich hielt ihn an mich gedrückt, so fest, wie ich nur konnte. Er zitterte, stöhnte in meinen Armen und klammerte sich noch fester an mich. Ich versuchte das Gleiche, auch ich versuchte den Graben zwischen uns zu
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