Himmelssucher - Roman
Mutter.
»Sag auf Wiedersehen zu deiner Tante«, sagte Sunil.
»Auf Wiedersehen, Tante.«
»Auf Wiedersehen, Kurban «, erwiderte Mutter gepresst. »Sei ein guter Junge.«
»Bin ich.« Sie gab ihm einen Kuss.
Und dann brachte Sunil Imran zu mir.
»Auf Wiedersehen, Hayat.«
»Auf Wiedersehen, Imran.«
Plötzlich funkelten Imrans Augen. » Bhai-Jaan? Weißt du noch, als wir in unserem Zelt Schach gespielt haben? Weißt du noch, als du mir gesagt hast, ich soll es nicht vergessen? Weißt du noch?«
Ich brauchte einen Augenblick, um mich wieder daran zu erinnern. Ich nickte.
»Ich werde es nie vergessen«, sagte er.
»Versprochen?«, fragte ich.
Er legte mir den Arm um den Hals. »Versprochen!«
Ein weiteres Mal sah Mina zu mir. Es versetzte mir einen Stich. »Ich liebe dich, Hayat«, sagte sie.
»Ich liebe dich auch«, erwiderte ich.
Als ich am Montagmorgen in die Schule ging und meinen Tisch öffnete, entdeckte ich auf meinen übrigen Büchern die rote Bibliotheksausgabe des Koran. Sofort war wieder das Schamgefühl da, das ich bei der Walima empfunden hatte, aber dann hörte ich Vaters beruhigende Stimme:
Du bist keiner von denen. Du läufst ihnen nicht hinterher.
Statt in der Pause wie üblich die heiligen Verse auswendig zu lernen, nahm ich den Koran und ging durch den leeren Flur zur Bibliothek. Dabei kam ich am alten, glatzköpfigen Hausmeister Gervitz vorbei, der seine Abfalltonne vor sich her schob. Er nickte mir zu. Ich nickte zurück. »Wie geht’s?«, fragte er.
»Gut«, antwortete ich überrascht. Es war das erste Mal, das er mich angesprochen hatte.
»Na, ich sehe dich doch immer, und ich hab das Gefühl, du bist ein guter Junge.«
»Danke«, sagte ich.
»Bild dir bloß nicht zu viel drauf ein«, erwiderte er schroff und wackelte davon.
Der Behälter in der Bibliothek für die Rückgaben war voller Bücher. Ich dachte nicht lange darüber nach, ich küsste auch nicht den Einband, wie ich es sonst tat. Ich legte den Koran einfach auf die anderen Bücher und sah zu, wie er zur Seite glitt und außer Sichtweite fiel. Es war der letzte Koran, den ich in den nächsten zehn Jahren anrühren sollte.
In den folgenden drei Wochen telefonierten Mutter und Mina täglich. Dann, eines Tages, rief Mutter an, und Mina rief nicht zurück. Mutter dachte sich nicht viel dabei. Es vergingen zwei Tage. Dann ein dritter. Und als Mutter daraufhin bei den Chathas anrief, ging niemand ran.
Am Morgen des vierten Tages – es war ein Samstag – stieg Mutter in den Wagen und fuhr zu den Chathas, um herauszufinden, was vor sich ging. Sie war zehn Stunden fort. Als sie abends zurückkam, war sie außer sich. »Er ist ein Unmensch!«, schrie sie und warf die Schlüssel ins Schränkchen. »Ich habe gewusst, dass mit ihm was nicht stimmt. Ich habe es gewusst.« Gefragt, was geschehen sei, ging sie erneut hoch: »Hayat! Ihr Gesicht ist geschwollen. Schwarz und blau, überall. Seit drei Tagen liegt sie in ihrem Zimmer. Und weißt du, warum ihr der Scheißkerl das angetan hat? Weißt du, warum?«
Ich schüttelte den Kopf. Plötzlich war mir heiß.
»Weil sie ihn angezweifelt hat. Er wollte Ghaleb sagen, dass er für ihn nicht einfach nur arbeiten, sondern ein gleichberechtigter Partner sein will. Ghaleb hat wer weiß wie viele Jahre gebraucht, um seine Apotheken aufzubauen, und dann kommt dieser Schwachkopf und meint, er könnte gleichberechtigter Partner sein! Nur weil er einen Doktortitel hat und glaubt, damit wäre er was Besseres als sein Vetter, der nur Apotheker ist! Kannst du dir das vorstellen? Napoleon-Komplex, Behta . Genau, wie ich dir gesagt habe. Genau wie ihr Vater. Aber Sunil ist ein Unmensch .«
Mutter setzte sich. Sie zitterte. Ich dachte schon, sie würde anfangen zu weinen, aber dann ergriff sie wieder das Wort, und mir wurde klar, dass sie vor Wut bebte.
»Hayat! Alles, was sie ihm gesagt hatte, war: Hältst du es wirklich für eine so gute Idee, deinem Vetter das zu sagen? Das war alles! Sie hat versucht, dem Schwachkopf einen Ratschlag zu geben! Und was macht er? Du hättest ihr Gesicht sehen sollen, Hayat! Gott sei Dank war er nicht zu Hause, als ich da war. Gott sei Dank! Sonst hätte ich ihm den Schädel gespalten! Ich hasse muslimische Männer. Ich hasse sie … Und Najat ist keinen Deut besser. Weißt du, was sie zu deiner Tante Mina gesagt hat?«
Wieder schüttelte ich den Kopf.
»Sie wollte Tante Mina und mir weismachen, dass es nach dem Koran richtig ist, wenn Männer ihre Frauen
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