Himmelssucher - Roman
Kennst du An-Nisa?«
Ich spürte meinen Herzschlag im ganzen Körper, bis hinein in die Zehen und Fingerspitzen. Ich nickte. Der Imam lächelte und reichte mir das Mikro, das mir aus den Fingern glitt und mit einem durchdringenden Kreischen zu Boden fiel. Ich wischte mir die schweißnassen Hände an der Hose ab und hob es auf. Alle Blicke waren auf mich gerichtet. Erneut sah ich zu Vater. Seine Miene überraschte mich. Er wirkte nicht wütend, nur hilflos.
»Die Sure An-Nisa. ›Die Frauen‹«, begann ich.
Im Namen Gottes, des Barmherzigen, Gnädigen.
O ihr Menschen, fürchtet den Herrn, der euch aus einem einzigen Wesen geschaffen hat.
Und aus diesem dessen Frau,
Und aus beiden viele Männer und Frauen.
Der Klang meiner Stimme gab mir Selbstvertrauen. Ich schloss die Augen, versuchte, den Gedanken an Vater zu verdrängen, und fuhr fort:
Fürchtet Gott, in dessen Namen ihr Bitten
zueinander sprecht.
Pflegt die Bande der Verwandtschaft.
Wahrlich, Gott wacht über euch!
Sacht berührte mich jemand an der Schulter. Ich sah auf. Es war Souhef. »Auf Arabisch, mein Junge«, sagte er leise.
»Auf Arabisch kann ich es nicht. Ich kann es nur auf Englisch«, antwortete ich. Mein Mund war so nah am Mikro, dass es alle hörten.
»Du kannst es nur auf Englisch?« Souhef schien verwirrt. »Wer unterrichtet dich?«
»Ich unterrichte mich selbst«, erwiderte ich.
»Wirklich?«, fragte Souhef überrascht.
Ich nickte. Farhaz neben mir kicherte.
»Mashallah« , sagte Souhef und tätschelte mir den Kopf. Er nahm mir das Mikrofon ab. »Wir haben hier einen sehr originellen jungen Mann unter uns«, sprach er zur versammelten Menge. »Der den Koran auf Englisch auswendig lernt. Brüder und Schwestern, er wird unser erster englischer Hafizsein.«
Er hielt inne. Leises Getuschel erfüllte den Saal.
»Lassen wir diesen heiligen Jungen noch mal einen herzlichen Applaus zuteil werden.«
Ich sah zu Vater. Er stand nach wie vor an der Tür und sah zu.
»Du bist so ein Blindgänger«, sagte Farhaz zu mir, als wir zur Treppe gingen. »Hat dir denn keiner gesagt, dass es nicht zählt, wenn man es nicht auf Arabisch kann?«
»Das stimmt nicht.«
»Du glaubst mir nicht? Dann frag ihn doch.« Farhaz drehte sich um und deutete auf Souhef.
Ich wandte mit an den Imam.
»Was gibt es, mein Junge?«
»Farhaz sagt, es zählt nicht, wenn man den Koran nicht auf Arabisch kann.«
»Arabisch ist unsere heilige Sprache, junger Mann.«
»Zählt es auch auf Englisch?«
»Zählen? Wofür?«
»Damit ich und meine Eltern in den Himmel kommen.«
Souhef sah mich an, in seinem Blick ein sanftes Leuchten. Er lächelte und schüttelte den Kopf. »Nein. Dazu musst du das heilige Buch in unserer heiligen Sprache auswendig lernen. Aber lass dich nicht entmutigen. Du hast dafür alle Zeit der Welt.«
Ich trat hinunter und ging mit gesenktem Kopf zur Männerseite hinüber. Was ich nicht sehen konnte, hörte ich: Überall glaubte ich Gelächter wahrzunehmen. Aus dem Geplapper, dem Hin- und Herrutschen auf den Stühlen, dem Lärm der Caterer, die sich auf das Servieren der Mahlzeiten vorbereiteten, selbst dem schrillen Pfeifen der Lautsprecher schien ich herauszuhören, dass sich alle über mich lustig machten. Ich verbrannte innerlich.
Ich kam an dem Tisch vorbei, an dem Rafiq und Ghaleb saßen. Rafiq hielt mich auf, ergriff meine Hand und lächelte mich freundlich an.
»Gut gemacht, Behta «, sagte er ermutigend. »Sehr eindrucksvoll.«
Ich glaubte ihm nicht. Ich meinte aus seiner Stimme mehr Mitleid als Lob herauszuhören. Ghaleb neben ihm machte keinerlei Anstalten, mich anzusprechen, sondern starrte mich nur mit seinen stummen, grauen Augen an. Rafiq deutete auf die beiden leeren Stühle an ihrem Tisch. Kopfschüttelnd ging ich weiter, vorbei an Hamza und Farhaz. Hamza hielt den Arm für einen High-five hoch. Ich ignorierte ihn. Ich wagte nicht, zu Farhaz zu sehen, aber ich hörte seinen Spott: »Was für ein Idiot! Er glaubt wirklich an den ganzen Mist!«
Ganz hinten fand ich einen leeren Tisch. Ich hörte Souhef übers Mikro verkünden, dass es nun Zeit für das Essen sei und die Männer anfangen sollten, sich etwas zu holen. Es kam Bewegung in die eine Hälfte des Saals; Stühle wurden gerückt, Männer erhoben sich. Auch Mutter war auf den Beinen, bemerkte ich, und eilte durch den Saal zu der Doppeltür, an der Vater gelehnt hatte. Aber er war fort.
17
DAS LANGSAME VERGEHEN
V ater hatte die Walima verlassen und war nirgends mehr zu
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