Himmelssucher - Roman
Imran wollte ebenfalls mitmachen, daher bekam auch er ein Tuch um den Kopf gewickelt – und legten im Wohnzimmer unsere Gebetsteppiche aus. Vater und ich standen Seite an Seite, hinter uns beteten, ebenfalls Seite an Seite, Mutter und Mina. Imran hielt sich am Rand auf und ahmte freudig unsere Bewegungen nach.
Danach war Mutter ganz gerührt. Vater zückte seine Brieftasche und gab mir einen Zwanzig-Dollar-Schein.
»Wofür ist der?«, fragte ich.
»Du bist jetzt ein Mann. Und ein Mann muss Geld in der Tasche haben«, sagte er und klopfte mir auf die Schulter.
»Nur weil du es hast, heißt das noch lange nicht, dass du es auch ausgeben musst«, schaltete sich Mutter ein.
»Lass den Jungen doch«, gab Vater zurück, freundlicher als sonst.
Mina nahm mich in die Arme und beglückwünschte mich. » Behta , ich bin so stolz auf mich!«
»Danke, Tante«, sagte ich.
»Hast du auch gemacht, was ich dir gesagt habe? Hast du dir beim Gebet vorgestellt, dass Allah ganz nahe ist?«
Ich hatte es total vergessen. Mina interpretierte meinen konsternierten Gesichtsausdruck ganz richtig.
»Hayat, das ist der einzige Grund, warum man betet«, sagte sie. »Um Allah nahe zu sein. Wenn du nur so tust, als ob, ist alles nutzlos. Selbst wenn du im Schulbus sitzt und dich an deinen Vorsatz erinnerst, Gott nahe zu sein – sogar das ist hundertmal besser, als wenn du nur so tust, als ob.«
»Okay, Tante«, sagte ich. »Ich werde es nicht mehr vergessen. Versprochen.«
Der Glaube hatte für Mina nichts mit Äußerlichkeiten zu tun. Sie trug kein Kopftuch. Und wegen ihrer Essstörungen, die sie schon als Mädchen hatte – wenn es ihr nicht gut ging, aß sie nichts, weshalb sie mehr als einmal ins Krankenhaus eingeliefert wurde –, fastete sie auch nicht. Trotzdem fand sie eine Möglichkeit, dem Sinn des Ramadan, wie sie ihn verstand, zu entsprechen. Sie entsagte jenen Dingen, die sie besonders gern tat, dem Lesen zum Beispiel, um somit den Willen zu stärken und ein höheres Maß an Dankbarkeit zu empfinden – das, sagte sie, sei der Grund, warum Muslime fasteten. Mina war eine Verfechterin dessen, was wir Muslime Idschtihad nennen, die persönliche Auslegung. Das Problem dabei war nur: Die sogenannten »Tore des Idschtihad« waren im zehnten Jahrhundert geschlossen worden, eine Tatsache, auf die ich durch eine Fußnote in meinem Koran aufmerksam gemacht worden war. Darin wurde erklärt, dass die persönliche Auslegung zu Neuerungen führte, und diese Neuerungen schufen nur Chaos, wenn es darum ging, Gottes Willen zu erkennen und ihn zu befolgen. Eines Tages sprach ich Mina darauf an, und sie erklärte mir beim Tee – Mutter saß mit am Tisch –, dass diese Tore ihrer Meinung nach nie geschlossen werden konnten, da es die Tore waren, die zum Herrn führten.
»Jemand hat einfach gesagt, sie wären geschlossen. Aber ich gehe jeden Tag hindurch, so wie es mir gefällt.«
»Seit wann hast du das zu entscheiden?«, fragte Mutter überrascht.
(Ich selbst war überrascht, dass Mutter überhaupt wusste, was Idschtihad bedeutete.)
»Wer kann es denn sonst entscheiden, Muneer?«, entgegnete Mina leidenschaftlich. »Irgendein Mullah, der vor tausend Jahren gelebt hat? Stimmt es denn, wenn man uns sagt, dass wir laut dem Koran nicht gleichberechtigt mit den Männern wären? Die Gesetze des Koran waren fortschrittlicher als das, was die Araber vor dem Islam hatten. Das war doch die Absicht, die dahinterstand. Die Dinge voranzutreiben, größere Freiheit zu gewinnen. Wie kann ein Gesetz, das nicht diesen Grundsätzen entspricht, überhaupt maßgeblich sein?«
»Also sollte ihnen nicht erlaubt sein, vier Frauen zu heiraten?«
Mina überlegte, schließlich erschien ein Lächeln auf ihren Lippen. »Oder uns sollte erlaubt werden, vier Männer zu heiraten …«
»Gott bewahre!«, rief Mutter lachend aus. »Einer reicht mir!«
Vielleicht war es das Vertrauen in die Reinheit ihrer inneren Einstellung, warum Mina glaubte, sie könnte eine Ausbildung in einem Schönheitssalon beginnen, ohne auf die kosmetische »List und Tücke« der weißen Frauen hereinzufallen. Wie sollte man sonst erklären, warum sie beschloss, ihren Lebensunterhalt in Amerika damit zu verdienen, dass sie lernte, die äußeren Reize zur Geltung zu bringen, die so sehr im Widerspruch zur weiblichen Sittsamkeit standen, die im islamischen Glauben einen derart hohen Stellenwert einnahm? Aber vielleicht ging eben von diesem Widerspruch eine Faszination aus, der sie sich
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