Himmelssucher - Roman
Frau:
»Vielleicht solltest du so was auch mal ausprobieren.«
Aber Mutter war nicht scharf darauf. Jedenfalls noch nicht. Es sollte noch Jahre dauern, bis sie sich auch nur entfernt an etwas heranwagte, was der modernen Umgestaltung Minas gleichkam. Ihre Haare würden vorerst bleiben, wie sie immer gewesen waren: glatt, lang, halb über den Rücken hinabreichend, nur hin und wieder mit Henna gefärbt oder mit einem Festiger behandelt, um ihnen mehr Volumen zu verleihen. Mutter war mehr als zufrieden, stellvertretend durch Mina zu leben. So kaufte sie Mina zu ihrem ersten Geburtstag in Amerika einen Kosmetikkoffer oder fuhr sie zur Mall, um die Zeitschriftenregale nach den neuesten Moden zu durchforsten. Mutter genoss diese Ausflüge enorm, legte aber Wert darauf zu betonen, dass sie immer nur »mitgeschleift« würde.
Selbstverständlich tat sie das alles nur Mina zuliebe.
Unser häusliches Leben fiel in einen friedlichen Rhythmus, den keiner von uns gewohnt war. Ich glaube nicht, dass wir darauf vorbereitet waren, glücklich zu sein. Schließlich waren wir geprägt und beseelt von einem asiatischen Mythos, der mit der amerikanischen Vorstellung immerwährenden Glücks rein gar nichts zu tun hatte. Wir sehnten uns zwar nach dem Glück, erwarteten aber nicht, es jemals zu erfahren. Das war unser kultureller Kontext, die Botschaft, die sogar die Videos in sich trugen, die meine Eltern beim indisch-pakistanischen Lebensmittelhändler ausliehen (der einzige Ort in der Stadt, an dem man indische Filme bekam): zuckersüße Kitschgeschichten von unerfüllter Liebe oder einer Liebe, die nur zum Preis des Todes ihre Erfüllung finden konnte. Diese Filme strotzten so sehr vor unwahrscheinlichen Begebenheiten, dass ein zahlendes amerikanisches Publikum sie niemals ernst genommen hätte, schon gar nicht als etwas, das einem die Realität des Lebens vermitteln konnte. Amerikaner hätten darüber nur ungläubig gelacht.
Genau diese Ungläubigkeit aber brachten Mina und meine Eltern ironischerweise den rigoros hoffnungsfrohen Erzählungen in den örtlichen Multiplex-Kinos entgegen, die Anfang der Achtziger ihre Tore öffneten. Hollywoods rosarote Bilder von den Möglichkeiten, die das Leben einem bot, waren für sie im besten Fall nichts anderes als Wunschdenken, im schlimmsten Fall kindischer Kurzweil. Als Lebensziel konnten sie das ebenso wenig ernst nehmen, wie das Popcorn im Kino für sie eine Mahlzeit war. Wollten sie also Pathos und Buntheit erleben, die für sie das reale Leben ausmachten, sahen sie sich die indischen Schmachtfetzen an. Das waren die Kinobilder, die ihre Seele geformt hatten, Geschichten, die auf einem dunkleren Grundton beruhten, die betörende Lieder und Bilder von schwermütiger Schönheit überlieferten und die immer gleiche Botschaft vermittelten:
Erwarte nichts außer Schmerz, Leid, Verlust.
Wie der Masala-Geruch, der in unserem Flur hing, schwebte in der Luft, die wir atmeten, immer die Erwartung drohenden Unglücks. Minas Anwesenheit hatte uns ein Fenster geöffnet und unser Leben erhellt, trotzdem stammte sie aus derselben Welt wie meine Eltern. Und so sehr sie auch Allah und seinem Wohlwollen gegenüber der Menschheit vertraute, so sehr, glaube ich, ging sie auch davon aus, dass sich letztlich alles gegen sie wenden würde.
Es war Ende Dezember. Nach meinem Unterricht mit Mina saß ich eines Abends noch einige Stunden mit dem Koran an meinem Schreibtisch. Um Mitternacht lag ich im Bett. Aber ich schlief nicht. Ich starrte in die Dunkelheit und sprach mir leise die neuen Verse vor.
Haben wir nicht deine Brust geweitet
Und dir deine Last abgenommen,
Die dir den Rücken niederdrückte?
Und haben wir nicht deinen Namen erhöht?
Wahrlich, mit Drangsal geht Erleichterung einher,
Mit Drangsal geht Erleichterung einher!
Ich hörte etwas im Flur. Ich unterbrach mein Rezitieren und horchte. Eine Stimme. Ich stand auf, ging an die Tür und öffnete sie leise. Ein dünner Lichtstrahl drang aus der Badezimmertür, die einen Spalt breit offen stand.
Jemand hat das Licht brennen lassen , dachte ich.
Ich ging zur Tür, und als ich nach dem Türknauf griff, hörte ich von drinnen ein Seufzen. Ich hielt inne und presste ein Auge an den Spalt. Im Spiegel sah ich Mina, nackt. Glatt und üppig und rund standen ihre Brüste vor mir, an der Spitze große, dunkle Brustwarzen. Ihre straffe, blassbraune Haut schimmerte. Ich hatte noch nie etwas so Vollkommenes wie ihren nackten Körper mit seinen Rundungen an
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