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Himmelssucher - Roman

Himmelssucher - Roman

Titel: Himmelssucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: carl's books Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Brust und Hüfte gesehen. Mein Herz sirrte. Etwas in mir stand in Flammen.
    Sie hatte die Augen geschlossen und die linke Hand zwischen ihren Beinen. Leise, in sich versunken, stöhnte sie; ihre rechte Hand berührte die rechte Brustwarze. Erneut stöhnte sie, rieb sich zwischen den Beinen, fester jetzt, während sich ihre Lippen öffneten und sie sich völlig in sich zurückzuziehen schien. Und plötzlich spannte sich ihr Körper. Sie nahm die Hand weg und offenbarte das schwarze Dreieck zwischen ihren Beinen. Ich war entsetzt. Und dann wurde mir bewusst:
    Sie sah mich an.
    Abrupt schlug sie den rechten Arm vor die Brüste und legte die linke Hand über die Schwärze zwischen den Beinen. Dann stieß sie die Tür zu.
    Ich kehrte in mein Zimmer zurück und lauschte. Eine Tür wurde geöffnet. Eine andere, weiter unten im Flur, geschlossen. Ich war erschüttert. Ich versuchte einzuschlafen, was mir endlich auch gelang. Die ganze Nacht warf ich mich herum, die auswendig gelernten Verse hallten mir durch den Kopf, Minas vollkommener, nackter Körper, die schockierende Schwärze zwischen den Beinen, verfolgten mich in den Träumen.
    Wäre es am folgenden Morgen nicht so peinlich gewesen, hätte ich mir einbilden können, ich hätte alles nur geträumt. Doch als ich sie am Tisch sitzen und betont kühl über ihr Frühstück gebeugt sah, ohne dass sie auch nur in meine Richtung geschaut hätte, brach mein Schamgefühl hervor, zähfließend, zermürbend. Und ihre frostige Antwort auf meinen einzigen Versuch, den Abgrund zu überbrücken, der sich so plötzlich zwischen uns aufgetan hatte – ich bat sie, mir das Salz für die Eier zu reichen –, ließ mich vor Gewissensbissen erschauern.
    Nach dem Frühstück verschwand sie in ihrem Zimmer. Ich folgte ihr nach oben, aber sie ließ mich nicht hinein. Ich war verzweifelt. »Es tut mir leid, Tante«, sagte ich mit Tränen in den Augen. Sie öffnete die Tür nur so weit, dass ich von ihr ein Auge und ein Stück ihres Mundes sehen konnte, während sie mir zuzischelte: »Hayat, wir dürfen nicht darüber reden. Erwähne es niewieder. Weder mir noch anderen gegenüber.« Sie verstummte, öffnete die Tür etwas weiter und sah mich mit traurigem Blick an.
    Dann warf sie die Tür zu.

II
    NATHAN

5
    LIEBE AUF DEN ERSTEN BLICK
    A uf den Vorfall mit Mina im Badezimmer folgte ein schweigsamer, verzweifelter Winter. Ihre distanzierte Haltung währte Wochen, dann Monate; ihre Müdigkeit nach den langen Arbeitsstunden diente ihr als Ausrede, unsere Koranstunde ausfallen zu lassen. Wenn wir Zeit gemeinsam verbrachten, war es nicht wie früher; zwischen uns stand ein Unbehagen, dessen Ursprung wir nur allzu gut kannten. Ich wünschte mir, es wäre nie geschehen. Ich betete zu Gott, uns beiden die Erinnerung daran aus dem Gedächtnis zu streichen. Und das Gebet war nicht die einzige Form magischen Denkens, zu dem ich Zuflucht nahm. Nachdem ich in einer von Minas Zeitschriften einen Artikel gelesen hatte, der erklärte, wie das, was uns im Leben widerfährt, durch unser Denken beeinflusst und oft erst hervorgebracht wird – vor allem, weil wir uns aussuchen, woran wir uns erinnern wollen –, beschloss ich, meine Erinnerung an jene Nacht zu verändern. Wenn ich im Bett lag, stellte ich mir alles wieder aufs Neue vor: die Geräusche im Flur, die meine Aufmerksamkeit erregt hatten, aber diesmal stand ich nicht auf und ging nicht nachsehen; oder wenn ich es tat, dann fand ich Mina im Badezimmer vor, aber sie trug ihren Pyjama, putzte sich die Zähne und sah mich lächelnd im Spiegel an. Wie der Artikel erklärte: Wenn ich mir nur ein anderes Ende vorstellte, könnte ich vielleicht vergessen, was wirklich geschehen war.
    Aber es funktionierte nicht. Das Bild ihres vollkommenen Körpers war nie fern und waberte in mein Bewusstsein wie der Rauch eines Feuers, das nie erlosch.
    Also probierte ich etwas anderes. Wenn es so falsch gewesen war, ihre Geschlechtsteile zu sehen, überlegte ich, dann wollte ich jetzt auch meine nicht mehr sehen. Diese Schlussfolgerung beruhte auf einem Syllogismus, der sich mir wie von selbst aufdrängte und mir merkwürdigerweise einigen Trost bereitete:
    1. Es war falsch, sie nackt zu sehen.
2. Nacktheit war also etwas Falsches.
3. Meine eigene Nacktheit war daher ebenfalls falsch.
    Wenn ich von nun an ins Badezimmer ging, achtete ich darauf, nicht mehr nach unten zu blicken, wenn ich meinen Geschäften nachging. Ich lernte, meine rituellen Waschungen zu vollziehen, ohne

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