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Himmelssucher - Roman

Himmelssucher - Roman

Titel: Himmelssucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: carl's books Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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nicht entziehen konnte. Schließlich lebte Mina jetzt in einer Welt, in der das Leben einer Frau wahrlich nicht mit dem Leben zu vergleichen war, wie sie es gekannt hatte. Aber was bedeutete das für sie? Wie war es, als Frau in Amerika zu leben? Was ging diesen grobknochigen, blonden, blauäugigen Amazonen durch den Kopf, die ihre Kinder zum Tennisunterricht und dem Fußballtraining fuhren; die mit Tüten beladen durch die Malls wanderten, durch die Supermarktgänge marschierten und überquellende Einkaufswägen vor sich herschoben? Diese Fragen musste Mina sich gestellt haben. Und vielleicht war es im örtlichen Lebensmittelladen gewesen, den sie und Mutter einmal in der Woche aufsuchten und wo sie in der Schlange standen und die weißen Frauen musterten mit ihren faszinierenden Tiefkühlgerichten, den Käsespezialitäten, abgepackten Fertigkuchen und verbotenen Wein- und Bierflaschen in unterschiedlichen Grün- und Brauntönen (und natürlich dem unerhörten Schweinefleisch, das so rosa schimmerte wie das Fleisch von Menschen) – vielleicht war es hier gewesen, dass Mina zum ersten Mal die Zeitschriften mit den amerikanischen Schönheiten auffielen und sie deren unmöglich breites Lächeln und die vom Wind der Freiheit, der über sämtliche Hochglanzcover zu wehen schien, perfekt zerzausten Frisuren bemerkte. Denn von diesen Modejournalen – Vogue und Harper’s Bazaar und Cosmopolitan – hatte Mina die Idee, Kosmetikerin in einem Schönheitssalon zu werden.
    Falls es wirklich ihre Absicht gewesen war, die Geheimnisse der Schönheit zu ergründen, ohne sie an sich selbst anzuwenden, dann versagte sie auf ganzer Linie. Nur wenige Wochen nach Beginn der Ausbildung wurde ihre übliche pakistanische Kleidung – der Salwar, die locker sitzende Hose, der Kamiz, das Hemd, und die Dupatta, die Kopfbedeckung – von nicht so locker sitzenden Blusen und Jeans abgelöst. Sie müsse sich für die Schule entsprechend kleiden, erklärte sie Mutter, eine Entschuldigung, die lediglich weitere Neuerungen in ihrem Aussehen vorwegnahm. Jetzt ließ sie sich von ihren neuen Freundinnen am Institute for Women & Beauty – einer Ausbildungseinrichtung, die in einem Laden der örtlichen Mall untergebracht war – nicht nur mit Lippenstift und Rouge schminken, sondern auch mit Mascara, Grundierung und Lidschatten. Meistens wischte sie sich die »Gesichtsbemalung« weg, bevor sie nach Hause kam, wir durften dann nur die kümmerlichen Spuren sehen, manchmal aber ließ sie es darauf ankommen, trat mit herausforderndem Blick in die Küche und stellte die gesamte Maskerade zur Schau. Rückblickend kann ich mir nur vorstellen, dass Mina sich in solchen Momenten als die trotzige Teenagerin sah und meine Mutter als ihre Erziehungsberechtigte. Falls sie Widerstand von Mutter erwartete, wurde sie enttäuscht. Mutter gefiel es, dass Mina alles ausprobierte, und das Einverständnis, das Mina von Mutter bekam, hatte sie wahrscheinlich ihr Leben lang gesucht.
    Keine zwei Monate nach Beginn der Ausbildung ließ sie sich einen komplett neuen Haarschnitt verpassen und kam am Abend mit Sue Ellens neuester Frisur nach Hause – die üppige Haarpracht war verschwunden, übrig geblieben waren mit Haargel hindrapierte Stacheln. (Wie Mutter, Vater und ich war Mina eine begeisterte Zuschauerin von Dallas und bewunderte die liebenswerte, ewig leidende und von Linda Gray gespielte Ehefrau von J. R.) Wir mussten sie wie vom Donner gerührt angestarrt haben, denn Mina wurde rot und beeilte sich zu erklären, dass ihre Mitschülerinnen jemanden zum Üben gebraucht hätten und sich sonst niemand freiwillig gemeldet habe. Aber Mina musste keine Angst haben. Unsere Erschütterung beruhte lediglich auf unserem Erstaunen. Tatsache war: Sie sah unglaublich aus. Mina war, sofern überhaupt möglich, noch schöner als vorher. Oder sollte ich sagen, sie war auf eine ganz neue Art schön? Ihr modischer Haarschnitt machte aus ihr eine moderne Frau, eine amerikanische Frau, was eine ganz erstaunliche Erkenntnis für Leute wie uns war, die wir immer geglaubt hatten, wir könnten so niemals aussehen.
    Das gesamte Abendessen über kommentierte Mutter, wie sich die Frisur auf das Gesicht ihrer besten Freundin auswirkte: wie ihre Wangenknochen besser zur Geltung kamen, ihre mandelförmigen Augen noch mehr betont wurden, Raum geschaffen wurde, um die Feinheiten der Gesichtszüge zu unterstreichen. Auch Vater war beeindruckt. Irgendwann deutete er auf Mina und sagte zu seiner

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