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Himmelssucher - Roman

Himmelssucher - Roman

Titel: Himmelssucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: carl's books Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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schlief und träumte die ganze Nacht von Minas Händen, die die gelb-weißen Seiten meines neuen Korans umblätterten.
    Am nächsten Abend, eine halbe Stunde vor dem Zubettgehen, wusch ich mich, band mir den Musselin, den Mina mir geschenkt hatte, um den Kopf und ging mit meinem neuen Koran zu ihr. Nachdem ich in der Schulpause die Verse, die wir am Abend zuvor gelesen hatten, auswendig gelernt hatte, sagte ich sie aus dem Gedächtnis auf.
    »Wie wunderbar, Behta !« Sie war ganz überrascht. Sie nahm mich in die Arme, und plötzlich war wieder dieses Gefühl da: dieser köstlicher Schauer, der mir durch und durch ging. »Ich habe das Gefühl«, flüsterte sie mir ins Ohr, »ich habe das Gefühl, dass du eines Tages noch ein Hafiz wirst.«

4
    EINE NEUE WELT
    I n den folgenden Monaten machte ich eine Reihe von spirituellen Erfahrungen, die einzigartig in meinem Leben bleiben sollten und die alle mit dem Koran und meinen abendlichen Studien mit Mina zu tun hatten. Wenn ich ihr Zimmer verließ, durchströmte mich ein warmes Gefühl, meine Wahrnehmung war intensiver, und manchmal war ich so hellwach, dass ich mich unmöglich ins Bett legen konnte. Dann setzte ich mich an meinen Schreibtisch – das weiße Tuch noch um den Kopf – und lernte Verse auswendig. Die Morgen nach diesen langen Abenden waren nicht so schlimm, wie Mutter gewarnt hatte, als sie mich einmal nach zehn Uhr am Schreibtisch erwischt hatte. Wenn, dann waren diese Morgen noch angenehmer: die Bäume, ihre laubgetüpfelten Silhouetten waren in ein prächtiges Licht getaucht, das so viel mehr war als nur der Schein der Sonne; die weißen Wolken türmten sich vor dem blauen Himmel, majestätische Skulpturen zur unermesslichen Ehre des Allmächtigen. Doch nicht nur die Schönheit der Natur bewegte mich in diesem erhabenen Zustand. Selbst die ölverschmierte Radachse des gelben Schulbusses, der jeden Morgen am Ende unserer Auffahrt zum Halt kam, fesselte mich – die drehende Nabe, das große, quietschende Rad, alles schien auf unergründliche Weise von einer eigentümlichen, großartigen, heiligen Macht zu künden.
    In der Schule – ich war eben erst in die sechste Klasse gekommen – fand ich mich manchmal in einem Zustand unheimlicher Ruhe und Wachheit wieder. Etwas so Schlichtes wie das Spiel des Sonnenlichts auf der grünen Schultafel im Klassenzimmer konnte mich stundenlang fesseln. Ganz zu schweigen vom Essen in der Cafeteria. Einmal, erinnere ich mich, war ich regelrecht geschockt, als ich beim Mittagessen aus meinem Milchkarton trank – der volle, sahnige, so tröstliche Geschmack konnte nichts anderes als ein Wunder sein. Einerseits fragte ich mich, warum ich bis dahin noch nie wirklich Milch gekostet hatte, andererseits wusste ich sehr wohl, dass solche Erfahrungen von meiner Beschäftigung mit unserem heiligen Koran herrührten.
    In diesem Oktober, bei einer Partie Touch Football, das wir in der Nachmittagspause spielten, blickte ich über die Schulter hinauf in den Himmel, wo ich den Ball erwartete, der, wie unser Quarterback Andy im Huddle gesagt hatte, in meine Richtung kommen würde. Statt des Balls entdeckte ich hinter einer Wolkenschicht etwas Rundes, Vollkommenes, einen leuchtenden, weißen Kreis. Und in den wenigen Sekunden, die der Ball brauchte, um Andys Hände zu verlassen und auf mich zuzufliegen – und in denen mir klar wurde, dass ich die Sonne sah –, war ich so tief in meine Betrachtung versunken, dass mir der Ball durch die Hände rutschte. Meine Mannschaftskameraden machten sich über mich lustig. Ich lächelte belämmert und entschuldigte mich. Meine Reue aber war nur gespielt, denn insgeheim sagte ich mir die Verse vor, die ich in dieser Woche für Mina auswendig gelernt hatte:
    Bei der Sonne und ihrem Glanz …
Und bei dem Tag, an dem er sie erstrahlen lässt,
Und bei der Nacht, die sie umhüllt,
Und bei dem Himmel und dem, der ihn errichtete,
Und bei der Erde und dem, der sie ausbreitete …
    Auf dem Weg zurück zum Scrimmage sah ich hinüber zum Schulgebäude, dem eingeschossigen, beigefarbenen Backsteinbau, der sich unter den hohen, dahinter gelegenen Baumreihen erstreckte; und hinter diesen Bäumen lag der Worth Park und hinter ihm das Shopping-Center und das Kino und die Apotheke; und dahinter Wälder und Felder und wer weiß was noch. Ich sah zur Straße mit den Einfamilienhäusern. Hinter ihnen gab es weitere Häuser, dann einen Highway, dann wieder Häuser. Ich sah hinauf in den Himmel, zu der dünnen

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