Himmelstal
warten. Er wusste genau, dass er von innen abgeschlossen hatte, sie hatten also einen Schlüssel.
Nach dem Mittagessen ging er in die Bibliothek der Klinik und lieh sich noch einen Krimi aus. Das Ausleihen war kein Problem. Er brauchte nicht einmal seinen Namen zu sagen, er zeigte dem Bibliothekar das Buch, der träge sagte:
»Ja, Max, ist in Ordnung.«
»Wird das nicht registriert?«, fragte Daniel vorsichtig.
»Nicht nötig«, sagte der Bibliothekar mit einem freundlichen Blinzeln. »Ich vergesse kein Gesicht und kein Buch.«
Er ging zur Hütte zurück, grüßte diskret den Nachbarn, der halb schlafend an der Hüttenwand lehnte, das Gesicht nach oben gerichtet wie eine riesige Kröte. Dann verbrachte er den Nachmittag mit seinem neuen Buch und ein paar Spielen auf Max' Computer.
Er war erfreut, als er Max' Laptop in der Hütte gefunden hatte. Aber ins Internet schaffte er es nicht. Er landete stattdessen in einem internen Kliniknetz. Über verschiedene Links konnte er sich über mögliche Behandlungen, Freizeitangebote und andere Aktivitäten informieren. Auch die Geschäftsleute aus dem Dorf waren vertreten und machten Werbung für ihre Läden und Dienstleistungen. Hannelores Bierstube warb mit einem Bild von Corinne, sie trug eine Bluse mit Puffärmeln und ein Mieder und hielt zwei schaumbedeckte Bierkrüge in den Händen. Für manche Seiten brauchte man einen Code.
Die Website Aus meiner Ecke des Tals enthielt Betrachtungen des Dorfpriesters, Pater Dennis, der sich in vollem Ornat vor der Dorfkirche hatte fotografieren lassen. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser war die Überschrift der Betrachtung der Woche. Daniel las weiter. Plötzlich erkannte ich, dass diese Zeilen aus dem Psalm von Himmelstal handeln. Wo gibt es grünere Wiesen als hier? Wo gibt es frischer sprudelndes Wasser?
Der Priester hatte recht, dachte Daniel. Er hatte noch nie so grünes Gras gesehen.
Mir gefällt der Gedanke, sich die Bewohner von Himmelstal als eine kleine ausgewählte Herde vorzustellen, die der Herr ausgerechnet in dieses Tal gebracht hat, damit sie endlich Ruhe finden , fuhr Pater Dennis fort.
Daniel klickte weiter. Filmangebote, Übungen fürs Kraft
training, das bunte Blumen- und Gemüseangebot der Gärtnerei und ein Kurs zur Impulskontrolle, der von einem der Klinikpsychologen geleitet wurde.
Er verließ das Netzwerk und suchte weiter auf dem Laptop, ob es etwas Interessantes gab. Er fand ein paar langweilige Sport- und Puzzlespiele, ein internes E-Mail-Programm, aber sonst nicht viel. Der Computer war eigenartig leer. Max schien alle persönlichen Dateien gelöscht zu haben.
Daniel konnte das E-Mail-Programm ohne ein Passwort öffnen. Es war nur eine Mitteilung im Eingangskorb. Bei Absender stand: Corinne. Und im Betreff: Sollen wir uns treffen?
Er zögerte einen Moment, dann schloss er das Mailprogramm. Er spielte weitere fünf Minuten gelangweilt das Fußballspiel, das er getestet hatte. Dann machte er wieder das Mailprogramm und die Nachricht auf. Sie war sehr kurz gefasst.
Was hältst du von einem Picknick? Ich bringe etwas zu essen mit. Entschuldige, dass ich gestern Abend so weinerlich war. Ich war so müde. Ich umarme dich. Corinne.
Das hatte er schon gestern Abend geahnt. Max und Corinne hatten etwas miteinander. Vermutlich war ihre Verbindung geheim. Es gehörte sich wohl nicht, dass ein Mädchen aus dem Dorf etwas mit einem Patienten aus der Klinik hatte.
Und er hatte ein weiteres Mal recht gehabt: Corinne hatte ihn zweifellos als Max akzeptiert.
Er hatte nichts gegen ein Picknick mit Corinne. Wenn Corinne denn ihn – und nicht Max – treffen wollte. Was nicht der Fall war. Und morgen würde Max zurückkommen. Daniel musste sich auf dem Klinikgelände aufhal
ten, damit er ihn nicht verpasste und dann abreisen konnte.
Er sehnte sich danach, wieder er selbst zu sein und nicht mehr einen anderen spielen zu müssen. Er konnte seinen Aufenthalt in dieser Luxusklinik überhaupt nicht genießen. Obwohl alle eigenartigerweise seine falsche Identität zu akzeptieren schienen, quälte ihn die Sorge, enttarnt zu werden. Und es gab einige Patienten, die er überhaupt nicht mochte. Was hatte der Typ im Speisesaal gesagt? »Wir mögen keine Leute, die unter falscher Flagge segeln.«
Er freute sich wirklich darauf, diesen Ort verlassen zu können. Wie würde es eigentlich rein praktisch zugehen? Müsste er sich den gleichen Bart ankleben wie Max, um wieder so
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