Himmelstal
nach draußen. Er hielt sich zwischen den Hauptgebäuden auf und spähte auf die Straße, auf der er selbst neulich mit dem Bus angekommen war. Es wurde
dunkel. Er wartete bis 10 Uhr, dann ging er in die Hütte zurück. Donnerstag, spätestens Freitag, hatte Max gesagt. Dann wurde es also Freitag.
Als die Nachtpatrouille kam, hörte er die holländische Jazzmusik. Und als der Donnerstag in den Freitag überging, kroch Daniel und nicht Max zwischen die frischen, etwas steifen Laken.
Am nächsten Tag wartete er bis ein Uhr. Dann ging er wieder zur Rezeption.
Nun saß dort eine andere Hostess. Ein junges Mädchen mit roten Haaren und einer schwarzen Brille, deren Gestell viel zu groß für ihr Gesicht war. Es sah aus, als hätte sie die Brille von ihrem Vater geliehen.
»Dein Bruder? Soll der noch mal wiederkommen?«
Er musste alles noch einmal erzählen. Die Rundreise durch die Alpen und ein letzter Besuch in Himmelstal, bevor es wieder nach Hause ging.
»Davon habe ich nichts gehört.«
»Ich möchte ihn auf keinen Fall verpassen.«
»Ich werde im Hauptbuch nachschauen.«
Sie holte das große Buch heraus, in das auch Daniel sich eingetragen hatte.
»Hm. Daniel Brant. Ankunft 5. Juli 18:20, Abreise 7. Juli 5:50. Er hat sich nicht noch einmal eingeschrieben. Und sich nicht bei der Wache angemeldet. Tut mir leid. Wollte er heute kommen?«
»Ja, spätestens heute.«
Ehe sie das Buch zuschlug, konnte Daniel seine Unterschrift sehen und darunter, beim Abreisedatum, noch eine Unterschrift, auch die mit seinem Namen. Den hatte er nicht selbst geschrieben. Mit dem hatte Max seine Abreise bekräftigt. Er hätte nicht geglaubt, dass jemand seine Unterschrift so gut kopieren konnte.
Das Mädchen tippte etwas in den Computer und schüttelte bedauernd den Kopf.
»Es sind keine Besucher für dich angekündigt, weder heute noch an einem anderen Tag. Hast du ihn vielleicht falsch verstanden? Wollte er wirklich noch einmal wiederkommen?«
»Ja! Auf jeden Fall.«
»Hm«, sagte das Mädchen. »Vielleicht ist er … Ja, ich saß an dem Morgen, als er abreiste, an der Rezeption, und er kam mir ein wenig nervös vor. Er hatte es eilig, wegzukommen. Habt ihr euch gestritten?«
»Überhaupt nicht.«
»Hm«, sagte sie noch einmal und runzelte etwas altklug die Stirn. »Du weißt ja, es gibt Leute, die fühlen sich hier nicht wohl. Wollen so schnell wie möglich wieder weg. Ich habe das Gefühl, dein Bruder gehörte zu der Sorte.«
»Aber er hat gesagt, er würde noch einmal herkommen. Donnerstag, spätestens Freitag«, protestierte Daniel wütend.
»Er hat sich vielleicht nicht getraut, dir die Wahrheit zu sagen. Wollte dich nicht aufregen. Er hatte vielleicht ein schlechtes Gewissen, dass er nur so kurz geblieben ist.«
»Wenn er kommt, würden Sie ihm dann bitte sagen, dass ich in der Hütte bin?«
»Selbstverständlich.«
Daniel war noch keine zehn Minuten in der Hütte, als ein Handy klingelte. Ein zartes Signal, das zur Untermalung in einem Naturfilm passen würde, wenn Blumen ihre Blüten öffnen.
Max hatte also sein eigenes Handy zurückgelassen! Daniel versuchte, das Geräusch zu lokalisieren. Es schien von der Eingangstür zu kommen.
Er fand das Handy schließlich in einer der vielen Ta
schen der Anglerweste, die an einem Garderobehaken hing.
Als er es hervorgeholt hatte, hörte das Klingeln auf. Daniel blieb mit dem Telefon in der Hand stehen.
Max hatte seines mitgenommen, als er ging. Damit er teure Auslandsgespräche führen konnte, die dann auf Daniels Rechnung gingen.
Daniel wählte seine eigene Mobilnummer. Er wollte seinem Bruder ein paar Fragen stellen, er hätte ihn schon früher angerufen, wenn er gewusst hätte, dass es ein Handy in der Hütte gab.
Wie erwartet gab es keine Antwort. Nach einigen Signalen hörte man eine automatische Frauenstimme, die darüber informierte, dass die angerufene Nummer nicht existierte. Er wählte noch einmal seine Nummer, langsam und sorgfältig, mit dem gleichen Ergebnis. Max war also in einem Land, das mit diesem Provider nicht erreicht werden konnte.
Er schaute auf das Display, um zu sehen, welchen Provider Max verwendete. Er hatte beim Wählen nicht so genau aufgepasst. Nun sah er auf dem Display einen schneebedeckten Alpengipfel vor einem knallblauen Himmel. In der Ecke wurde die Uhrzeit, Ladezustand und Netzintensität angezeigt. Und da, wo sonst der Provider stand, leuchtete der Name »Himmelstal« mit glitzernden Buchstaben vor dem blauen Himmel,
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