Himmelstal
mal her und verabschiedet sich, bevor er wieder nach Schweden fährt.«
Sie nickte, und er versuchte, ihr Lächeln zu deuten. Für eine Bedienung war es zu warm. Aber für eine Geliebte zu kühl.
»Es ist bestimmt nett für dich, dass dein Bruder dich hier besucht. Wart ihr euch sehr nah, bevor du hierherkamst?«
»Nicht so sehr.«
Einen Moment lang war es still. Daniel überlegte, ob Max ihr wohl erzählt hatte, dass er Patient der Klinik war.
Corinne spielte gedankenverloren mit einem breiten Armband aus verschiedenfarbigen Steinen. Dann lachte sie plötzlich auf und redete über alles Mögliche. Anstrengende Gäste, Rückenschmerzen. Dass niemand ihre Auftritte wertschätzte. Nicht enden wollende Beschwerden, aber lachend und scherzhaft vorgetragen, als ob sie Angst hätte, hier die Tragödin zu geben.
»Sag mir eins«, unterbrach Daniel sie. »Warum arbeitet eine so begabte Künstlerin wie du in so einem Laden? Ich habe dich neulich auftreten sehen. Du müsstest in Berlin auf der Bühne stehen.«
Er versuchte sein Glück. Vielleicht wusste Max das alles schon.
Sie lachte auf.
»Ich habe auf einer Bühne in Berlin gestanden. Und vielleicht würde ich da immer noch stehen, wenn nicht anderes dazwischengekommen wäre. Aber das Leben ist nun mal so, wie es ist, nicht wahr? Ich bin froh, dass ich hier auftreten kann. Das Publikum ist mir egal. Ich mach es für mich.«
In ihrem trotzigen Tonfall lag eine Spur Trauer.
»Aber ich möchte lieber nicht darüber reden«, sagte sie.
»Worüber willst du dann reden?«, fragte Daniel.
»Im Moment über gar nichts. Ich muss arbeiten.«
Sie stand schnell auf und ging zu einer Gruppe ungeduldiger Gäste an einem anderen Tisch.
Als Daniel kurze Zeit später in Max' Hütte kam, zögerte er bei dem Gedanken, im Bett seines Bruders zu schlafen. Aber die Bank, auf der er die letzten beiden Nächte verbracht hatte, war hart und unbequem. Er suchte im Schrank nach frischer Bettwäsche, fand keine und beschloss, in der von Max benutzten zu schlafen.
Es war ein merkwürdiges Gefühl, in dem engen Alkoven zu liegen, es war eine Nische in der Wand, in der nur das Bett Platz hatte und ein Bücherregal, das rundherum lief. Als er die kleine Bettlampe angeknipst und den Vorhang vorgezogen hatte, fühlte er sich wie in den geheimen Kojen der Kindheit, geborgen und aufgeregt.
Als er jedoch das Licht ausgemacht hatte, wurde es eher klaustrophobisch. Der schwere Vorhang ließ kein Licht herein, die Luft war abgestanden, dazu ein Geruch, der nichts anderes sein konnte als der Körpergeruch seines Bruders, er wurde plötzlich heftiger und aufdringlich. Das Bett war jedoch sehr bequem, seine Sinne vom Bier ein wenig betäubt. Binnen weniger Minuten war er eingeschlafen.
Wie im Traum erreichte ihn der Lichtstrahl einer Taschenlampe. Er blinzelte und sah, dass sich eine Gestalt über ihn beugte. Ein Frauengesicht, leuchtend weiß wie ein Mond, sanft lächelnd. Das Gefühl von Verwirrung und Angst verschwand, stattdessen kam eine große Ruhe über ihn. Es war ja nur seine Mutter, die ihn zudeckte.
Der Vorhang fiel zurück, es war wieder dunkel, er hörte freundliches Flüstern und Schritte, die sich entfernten, dann glitt er wieder in den Schlaf, aus dem er gar nicht richtig erwacht war.
18 Der Mittwoch war nicht so sonnig und warm wie die Tage zuvor. Daniel verbrachte den Vormittag in der Hütte und las. Um die Mittagszeit hatte er das Buch ausgelesen. Er machte sich eine Dose Bohnen in Tomatensoße warm, die er in einem Schrank über dem Herd gefunden hatte.
Beim Essen schaute er aus dem Fenster. Ein beruhigender Dunst lag über dem Tal und machte alles weich. Er hatte solche Sommertage schon immer gemocht, mild, aber ohne Sonne. Er betrachtete die Felswand mit den Abdrücken an der anderen Talseite, die aussahen wie menschliche Gestalten. Es war eigenartig, dass die Natur so etwas hervorbringen konnte. Als ob das Tal von schmalen Riesen bevölkert gewesen war, die geradewegs in den Fels gegangen waren und diese Abdrücke hinterlassen hatten. Oder wie in Hiroshima, wo Menschen wie Schatten in die Hauswände gebrannt waren.
Plötzlich erinnerte er sich an den nächtlichen Besuch. Das Licht der Taschenlampe an seinem Bett, das Frauengesicht, das er im Halbschlaf mit dem der Mutter verwechselt hatte. Es war natürlich die Nachtpatrouille, die kontrollierte, ob er da war. Daniel hatte vergessen, dass sie jeden Abend kamen, und hatte sich schlafen gelegt, ohne auf sie zu
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