Himmelstal
die Pritsche, die aus der kreisrunden Öffnung des Apparats herauskam wie die Zunge aus einem Mund.
»Du bist hoffentlich nicht klaustrophobisch«, sagte Schwester Louise, und mit den gleichen selbstverständlichen Handgriffen, mit denen sie ein Baby für eine Ausfahrt im Wagen angezogen hätte, spannte sie seinen Kopf und die Arme fest und setzte ihm Kopfhörer auf.
»Lieg jetzt absolut still.«
Langsam glitt die Pritsche in den engen Tunnel, aus dem Kopfhörer kam klassische Musik. Kurz darauf gab der Apparat einen schrecklichen Lärm von sich. Die Musik wurde leiser, und die Stimme von Schwester Louise sagte flüsternd und fast leidenschaftlich:
»Keine Angst. Das ist der Magnet. Entspann dich und lausche der Musik. Und beweg dich unter keinen Umständen. Diese Untersuchung kostet über tausend Dollar. Doktor Fischer wäre nicht erfreut, wenn wir sie wiederholen müssten.«
Die Musik wurde langsam lauter. Es war ein bekanntes klassisches Stück. Tschaikowskys »Schwanensee«? Daniel versuchte, an die Musikstunden in der Schule zu denken. An Konzerte, in denen er gewesen war. An eine
Opernvorstellung, die er mit Emma besucht hatte. Wo war das gewesen? In Brüssel? Was für eine Oper? Er wusste es nicht mehr.
»Angenehme Gedanken?«, fragte Schwester Louise im Kopfhörer. »Jetzt darfst du dich mit etwas anderem beschäftigen. Entspann dich und lass es auf dich wirken.«
Auf einem kleinen Monitor an der Decke des Tunnels erschien plötzlich das Bild einer Landschaft. Vielleicht Südengland? Die Landschaft verschwand, und stattdessen erschien ein weinendes Kind auf einer Straße. Die Bilder wechselten. Menschen, Tiere, Landschaften. Dann kamen Wörter in Großbuchstaben auf Englisch. Einzelne Wörter, abstrakt und konkret, sie wurden nacheinander gezeigt, ohne Zusammenhang.
Das Klopfen ging weiter, als ob eine ganze Bande Poltergeister unterwegs wäre, und die Musik spielte.
Als das Klopfen endlich aufhörte und er aus der Röhre glitt, reichte Schwester Louise ihm seine Kleider, Schuhe und Gürtel in einer Plastikschale.
»Sieh an. Du hast es auch dieses Mal überlebt«, sagte sie.
Den Abend verbrachte Daniel zusammen mit Marko vor einem Fernseher in einer Aufenthaltsecke der Krankenabteilung. Daniel versuchte es mit einer Konversation. Er sprach von der Untersuchung, die sie beide hinter sich hatten und von den Testfragen. Aber Marko war an einem Gespräch nicht interessiert.
»Halt die Klappe. Ich will den Film sehen«, brummte er.
Die Schwester kam zu ihnen.
»Deine Schlaftabletten, Marko«, sagte sie und reichte ihm einen rosafarbenen kleinen Medizinbecher. Er schien es nicht zu bemerken, also stellte sie den Becher auf den Sofatisch.
»Da drüben ist eine Thermoskanne mit Tee für euch. Milch und Zucker gibt es leider nicht. Gute Nacht.«
Sie sahen einen amerikanischen Actionfilm, Sylvester Stallone sprach deutsch, die Stimme schien viel mehr Wörter zu sagen als seine Lippen. Marko saß nach vorne gebeugt, sein Bauch hing wie ein schwerer Sack zwischen seinen Schenkeln, er starrte wie hypnotisiert auf den Bildschirm. Er atmete mühsam durch die Nase und roch nach altem Schweiß. Daniel hoffte, dass vielleicht ein anderer Patient aus einem der Zimmer zu ihnen herauskäme. Jemand, der ein wenig plaudern wollte. Er holte die Thermoskanne und zwei Becher.
»Möchtest du?«
Marko antwortete nicht. Ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen, angelte er eine Schachtel Zigaretten aus der Brusttasche. Er klopfte eine Zigarette heraus, steckte sie zwischen die Lippen und zündete sie an.
»Du darfst hier drinnen nicht rauchen«, erinnerte Daniel. »Du musst jemanden vom Personal bitten, mit dir nach draußen zu gehen.«
»Die sind gegangen«, zischte Marko zwischen den Zähnen hervor.
»Dann geh allein nach draußen.«
»Ist abgeschlossen.«
Daniel stand auf und ging zur Glastür der Abteilung. Sie war tatsächlich abgeschlossen. Er klopfte an die Tür zum Schwesternzimmer, wartete und drückte dann die Klinke herunter. Auch abgeschlossen.
»Du musst warten, bis die Nachtschicht kommt«, sagte Daniel.
Marko blies eine Rauchwolke in die Luft und aschte in Daniels Teebecher. Sylvester Stallone warf einen Mann durch eine Glasscheibe, die Splitter regneten in Zeitlupe herab.
»Ich geh schlafen«, sagte Daniel und stand auf.
Marko reagierte nicht.
Als Daniel in sein Krankenhausbett geschlüpft war, lag er noch lange wach, er roch den Duft des Weichspülers der Bettwäsche und hörte das
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