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Himmelstal

Himmelstal

Titel: Himmelstal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Hermanson
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nicht antworten. Er steckte das Geld wieder in die Tasche und ließ sich auf eine Bank in der Nähe fallen, unendlich mü
de. Er hatte an diesem Tag einen wichtigen Auftrag, aber er spürte, dass er außer Stande war, ihn auszuführen.
    Zwei Monate lang war er krank geschrieben. Laut Attest wegen einer Depression. Aber er selbst wusste, dass es sich um etwas anderes handelte. Eine fürchterliche Scharfsichtigkeit. Eine Offenbarung von fast religiöser Natur. Wie die Erleuchteten das Licht sehen, hatte er das Dunkel gesehen, und das hatte in ihm genau das Gefühl von Wahrheit ausgelöst, das diese Menschen beschrieben. Der trügerische Vorhang des Daseins war beiseitegerissen worden, und er hatte sich selbst und sein Leben so gesehen, wie es war. Dieses Erlebnis war ein richtiger Schock, aber er war dem Schicksal zutiefst dankbar, und ihn schauderte beim Gedanken, dass er ebenso gut im Wahn hätte weiterleben können.
    Daniel hatte seine Stelle als Dolmetscher gekündigt, war zurück in seine Heimatstadt Uppsala gezogen und hatte eine Stelle als Aushilfslehrer für Sprachen an einem Gymnasium gefunden. Die Arbeit war schlechter bezahlt als seine bisherige, aber damit musste er sich abfinden, solange er noch nicht wusste, was er aus seinem Leben machen wollte.
    In der Freizeit spielte er Computerspiele. World of Warcraft und Grand Theft Auto. Am Anfang als Zeitvertreib, später mit immer größerem Engagement. Je grauer sein echtes Leben war, umso lebendiger erschien ihm die fiktive Welt. Die Klassenzimmer und das Lehrerzimmer waren Warteräume, in denen er unzählige Stunden verbrachte und wie schlafwandlerisch Verbformen und kollegialen Smalltalk herunterratterte. Nach der Arbeit zog er die Rollos in seiner kleinen Einzimmerwohnung herunter, schaltete den Computer an und stürzte sich in das Leben, in dem sein Puls vor Erregung pochte und sein Gehirn vor listigen Einfällen nur so blitzte. Wenn er dann im Morgen
grauen ins Bett sank, völlig erschöpft von harten Kämpfen und halsbrecherischen Fluchten, war er erstaunt, dass er so starke Gefühle für etwas aufbringen konnte, was nicht existierte, während das, was es wirklich gab, ihn so wenig berührte.

 
    6  Als Daniel aus dem Lift trat, kam Max ihm entgegen.
    Vor genau diesem Moment hatte er sich gefürchtet. Dass er sich selbst entgegenkam, sich in die eigenen Augen schaute, die eigenen Gesichtszüge sah.
    Zu seiner großen Erleichterung war es dieses Mal ganz anders. Der Mann, der ihm unter dem Kristallleuchter entgegenlief, kam ihm bekannt vor, aber irgendwie entfernt und flüchtig.
    Daniel fuhr sich mit der Hand durch den Bart, wie um sich zu vergewissern, dass er noch da war. Dieses weiche, aber effektive Visier schützte sein empfindliches Gesicht.
    Max war braungebrannt, lässig in Bermudashorts, Polohemd und Sandalen wie ein Tourist gekleidet. Seine Haare waren kurz geschoren, sein Lächeln war so breit und strahlend, dass Daniel sofort wusste, dass Max sich am manischen Ende der Skala befand, auf der seine Psyche sich ständig auf und ab bewegte. Diesen Eindruck hatte er ja auch durch seinen Brief bekommen, aber der war vor einem Monat geschrieben worden, und Max' Laune konnte sich schnell ändern. Innerhalb von Stunden konnte sie von Euphorie in nachtschwarze Verzweiflung oder aggressive Wut umschlagen. Aber nun war er bester Laune. Solange Daniel keine Verantwortung für die Folgen übernehmen musste, war das auf jeden Fall besser.
    Max' Umarmung war herzlich, beinahe leidenschaftlich, es folgte ein männlicher Schulterschlag und spielerisches Schattenboxen.
    »Bruderherz! Was! Dass du da bist! Du bist gekommen! Yesss!«
    Er lachte laut und schloss seine Fäuste zu einer Siegesgeste, blickte zur Decke, als danke er einem unsichtbaren Gott. Daniel lächelte vorsichtig zurück.
    »Das war doch klar, dass ich komme«, sagte er. »Nett, dich zu sehen. Es scheint dir gutzugehen.«
    »Die Lage ist stabil. Und selbst? Mein Gott, hast du immer noch diesen albernen Bart! Der ist ja noch schlimmer als früher. Wundert mich, dass sie dich ins Flugzeug gelassen haben. Du siehst aus wie ein Taliban.«
    Max packte Daniels Bart und zog scherzhaft daran.
    »Mir gefällt er«, sagte Daniel und trat einen Schritt zurück.
    »Wirklich?« Max lachte. »Und diese Brille! Gibt es auch Secondhand-Läden für Brillengestelle? Oder wo hast du die gefunden? Warum hast du denn keine Kontaktlinsen wie alle anderen vernünftigen Menschen?«
    »Ich finde es unangenehm. Sich

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