Himmelstal
Blechschachtel wieder aus der Tasche und legte die Kippe ordentlich zu den ungerauchten Zigarillos.
»Den Bewohnern vom Himmelstal bleibt ein hässlicher Zaun erspart. Aber sie wissen, dass es die Grenze gibt, und sie respektieren sie. Ziemlich viele haben aus Versehen oder Abenteuerlust die Zone 1 betreten und sind dort aufgehalten worden. Manche sind durch die Maschen gerutscht und haben die unter Strom stehende Zone 2 betreten. Aber nicht ein einziger von denen, die die Zone 2 betreten haben, hat es wiederholt! Das ist das Bemerkenswerte. Und ich spreche von extrem risikofreudigen, impulsgesteuerten Menschen, wie es die meisten Psycho
pathen sind. Personen, die ein unangenehmes Erlebnis schnell vergessen und völlig unfähig sind, aus Erfahrungen zu lernen. Nicht ein Einziger hat mehr als einmal die Zone 2 betreten .«
Gisela Obermann machte eine Pause und wartete auf Daniels Reaktion. Er schaute sie fragend an. Sie beugte sich vor und fuhr fort:
»Ein Stromschlag geht direkt in das Gedächtnis des Körpers.«
Sie nagelte Daniel mit dem Blick fest, um sicher zu sein, dass er ihr zuhörte. Sie war so nah, dass er ihren hektischen Atem spürte.
»Es ist die effektivste Konditionierung, die es gibt, das wissen alle Wissenschaftler, die mit Versuchstieren arbeiten. Du kannst der größte Selbstbetrüger der Welt sein, deine Vergangenheit so ummodeln, dass sie dir gefällt, und so jeden Fehler immer wieder machen. Aber einen Stromschlag kannst du nicht ausradieren. Der ist bis an dein Lebensende in dein Gedächtnis eingraviert. Und es hat sich gezeigt, dass wir genau das brauchen, um Psychopathen Grenzen zu setzen: eine deutliche Zurechtweisung, die den Körper direkt anspricht und sich nicht um das manipulative Bewusstsein schert. Eine Erfahrung, die auch ein Psychopath nicht vergessen oder verdrängen kann. Eine primitive Erfahrung, die viel tiefer reicht.«
»Gebranntes Kind scheut das Feuer«, murmelte Daniel. »Ein alter, zuverlässiger pädagogischer Trick. Obwohl ich zugeben muss, dass ich auf diese Lehre gut hätte verzichten können. Aber in allem Schlechten steckt ja auch etwas Gutes: Seit ich diesen Stromschlag hatte, haben Sie mich ganz anders behandelt. Sie erklären mir alles Mögliche, Sie nennen mich bei meinem richtigen Namen. Es hat fast den Anschein, als hätten Sie endlich verstanden, wer ich bin.«
Sie legte ihre Hand auf Daniels Decke, da, wo sie seine Hand vermutete.
»Es tut mir leid, dass ich es erst jetzt verstehe«, sagte sie mit einem aufrichtigen Bedauern in der Stimme. »Ich habe es vermutet, aber ich war mir nicht sicher.«
»Und was hat Sie nun überzeugt?«
Sie lachte.
»Das habe ich doch gesagt. Niemand betritt mehr als einmal die Zone 2. Max war in Zone 2. Und dann machst du es. Das zeigt, dass ihr zwei unterschiedliche Persönlichkeiten habt.«
Ihre Worte verwirrten ihn.
»War Max in der Zone 2?«
»Entschuldige, aber das kannst du ja nicht wissen. Das war letzten Sommer. Er versuchte, durch die Straßenunterführung an der Stromschnelle zu fliehen, das ist eine Röhre unter der Straße. Er passte den Moment ab, als der Zufluss minimal war, sägte das Gitter durch und kroch hinein. Er nahm wohl an, dass die Zonen nur über der Erde aktiv sind. Aber weiter drinnen in der Röhre gibt es noch ein Gitter, es gibt sogar noch mehr, aber er kam nur bis zum ersten, das stand unter Strom. Die Patrouille war ganz in der Nähe, sie haben ihn sofort herausgezogen.«
Gisela Obermann machte eine Pause und betrachtete Daniel mit plötzlicher Sorge.
»Wie ist dir zumute, wenn ich dir das alles erzähle?«
»Ich bin erstaunt.« Daniel schluckte, damit der Kloß, der sich in seinem Hals gebildet hatte, verschwand. »Ist das letzten Sommer passiert? Ich wusste nicht, dass Max schon so lange hier war. Ich dachte …«
»Was dachtest du?«
»Egal. Das Wichtigste ist, dass Sie endlich verstanden haben, dass ich nicht Max bin. Manchmal dachte ich wirklich, ich werde verrückt.«
Zu seiner Überraschung lachte er, trocken und krächzend, und gleichzeitig spürte er, wie eine Träne über seine eine Wange rollte. Schnell nahm er die Hand unter der Decke hervor und wischte sie ab.
Gisela lächelte ihn teilnahmsvoll an.
»Du bist sympathischer als Max«, sagte sie.
»Aber Max ist Ihr Patient. Es muss doch ein Problem für Sie sein, dass es ihm gelungen ist, zu fliehen.«
»Über dieses Problem brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Überlass das ruhig uns. Wie fühlst du dich? Bist
Weitere Kostenlose Bücher