Himmelstal
die Zusammenhänge genau zu verstehen. Vielleicht lösen wir das Rätsel nächstes Jahr oder erst in zehn Jahren. Oder überhaupt nicht. Klar ist, dass die Gehirne von Psychopathen deutliche Unterschiede aufweisen. Man hat veränderte Strukturen in den Frontallappen und der Amygdala gefunden, unnormale Hirnwellen bei emotionaler Stimulierung, ein überaktives Dopaminsystem und
noch einiges mehr. Die Unterschiede sind physiologisch und messbar. Wenn diese Menschen sich nun auf Grund einer physischen Anomalität so verhalten, wie sie sich verhalten, haben wir dann das Recht, sie zu bestrafen, Daniel? Sie in schreckliche Gefängnisse einzusperren oder, wie in manchen Ländern, sie hinzurichten?«
»Ich bin gegen die Todesstrafe«, sagte Daniel und kratzte sich am Kinn.
Er hatte sich in den letzten Tagen nicht rasiert, der Bart wuchs wieder. Er musste ihn dauernd anfassen. Es war wie ein Stück Geborgenheit in all der Verwirrung. Ein Schmusetier, das er immer bei sich hatte.
»Aber die Gesellschaft muss sich natürlich vor den gefährlichen Verbrechern schützen«, fügte er hinzu. »Ob sie nun eine unglückliche Kindheit hatten oder merkwürdige Hirnwellen oder sonst etwas. Sie haben draußen in der Gesellschaft nichts verloren.«
Gisela Obermann war mit der Antwort zufrieden.
»Genau. Bisher sind alle Versuche zur Behandlung oder Anpassung fehlgeschlagen. Die Zahl der Rückfälle bei psychopathischen Kriminellen ist erschreckend hoch. Psychopathie ist immer noch unheilbar. Also: Strafe statt Behandlung.«
Sie steckte die Hand in die Tasche und holte eine Blechschachtel mit langen, schmalen Zigarillos hervor.
»Oder«, sagte sie und zündete einen an, »es gibt einen dritten Weg.«
»Wollen Sie eine moralphilosophische Diskussion mit mir führen?«, sagte Daniel. »Dazu müssen Sie sich einen anderen suchen. Mir wäre lieber, Sie würden mir erklären, was mir auf dieser Weide zugestoßen ist. Ich habe noch nie einen Elektrozaun gesehen, der solche Brandverletzungen verursacht. Was für Tiere weiden dort? Elefanten?«
Gisela hielt Daniel die Blechschachtel mit den Zigarillos hin. Er schüttelte den Kopf. Sie lehnte sich im Liegestuhl zurück, rauchte gedankenverloren ein paar Züge und ließ die Rauchwolken über das Balkongeländer davonsegeln.
»Einen dritten Weg«, wiederholte sie, als hätte sie Daniels Bemerkung nicht gehört.
War sie vielleicht ein wenig verrückt? Es war nichts Ungewöhnliches bei Psychiatern.
»Welchen dritten Weg?«, fragte Daniel.
Sie rauchte eine Weile schweigend, dann fuhr sie fort:
»Dazu ein wenig Geschichte. Vor vierzehn Jahren, in Turin, auf der großen Konferenz über psychosoziale Persönlichkeitsstörungen, gemeinhin die Psychopathenkonferenz genannt, trafen sich Neurologen, Psychiater, Politiker und Philosophen. Man tauschte Forschungsergebnisse aus, diskutierte, stritt. Tag und Nacht beschäftigte man sich mit der Frage: Wie können wir uns auf eine ethisch vertretbare Weise vor diesen lebensgefährlichen Menschen schützen? Nach langen Debatten entstand eine Vision, auf die man sich einigen konnte. Irgendeine Form der langen, vermutlich lebenslangen Isolation erschien notwendig, es sollte kein Gefängnis und keine rechtspsychiatrische Klinik sein. Man dachte an eine Umgebung, in der die Lebensbedingungen gut und Freiheit in ganz bestimmten Grenzen gegeben war. Ein Ort, an dem man ein erträgliches Leben führen kann. Das Gebiet sollte groß sein, weil es viele Menschen beherbergen und den Bewohnern für den Rest ihres Lebens als Aufenthaltsort dienen sollte. Man strebte ein möglichst normales Leben an. Die Bewohner sollten privat wohnen, irgendeiner Art von Berufstätigkeit oder einer anderen sinnvollen Beschäftigung nachgehen. Sie sollten geschäftlich tätig sein können, studieren, Sport treiben und die Möglichkeit bekommen, die
unterschiedlichsten Fähigkeiten zu entwickeln. Kurz gesagt, eine kleine geschlossene Gesellschaft.«
»Das klingt richtig nett«, sagte Daniel.
»Kommt drauf an, wie man es betrachtet. Die Isolation von der übrigen Welt musste natürlich total sein. Aber man legte großen Wert auf den Unterschied zu Anlagen, die es in der Geschichte schon einmal gab, wie Aussätzigenkolonien. Hier sollte es nicht darum gehen, Menschen beiseitezuschaffen und sie zu vergessen. Im Gegenteil, dieser Ort sollte ein Zentrum werden für die Forschung und die einzigartige Möglichkeit bieten, unter kontrollierten Bedingungen Psychopathen in einer relativ
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