Himmelstal
Zigarillo mischte sich mit dem Geruch von Harz und Tannennadeln.
»Ich würde gerne mit Ihnen reden«, fuhr er fort und ging zu ihr.
»Du bist nicht mehr mein Patient«, sagte Gisela Obermann kurz.
»Ich weiß. Ich bin Doktor Fischers Patient. Aber ich wäre lieber wieder bei Ihnen.«
Sie gab ein kurzes, seltsames Lachen von sich. Ohne ihn anzuschauen, sagte sie:
»Du glaubst also, du könntest dir das aussuchen?«
Ein Sonnenstrahl drang durch die Tannen und erhellte ihr Gesicht. Daniel war erstaunt, als er sah, wie müde und abgekämpft sie aussah. Der enge Rock war die Schenkel hinaufgeglitten und entblößte eine Laufmasche in ihren Strümpfen, groß wie ein Spinnennetz.
»Nein«, sagte er, »aber es fällt mir leichter, mit Ihnen zu sprechen, als mit Doktor Fischer.«
»Geh«, sagte sie kalt. »Hast du gehört? Du bist nicht mein Patient, und man hat mir verboten, mit dir zu reden. Ich darf keinerlei Kontakt zu dir haben.«
»Aber Sie müssen mir helfen. Ich möchte, dass Sie die schwedischen Behörden kontaktieren und meine Identität feststellen lassen. Sie müssen mit Ihren Kollegen sprechen.«
Daniel sprach schnell und eifrig. Er hockte sich neben sie ins Moos.
Gisela Obermann warf den zur Hälfte gerauchten Zigarillo weg und stand plötzlich auf. Sie machte auf Strümpfen ein paar Schritte zurück, das Handy hielt sie vor sich wie ein Kreuz gegen einen Vampir.
»Wenn du nicht sofort verschwindest, rufe ich die Wachen«, zischte sie. »Ich drücke auf den Überfallknopf, verstehst du?«
Daniel schaute sie erschrocken an und ging dann schnell auf den Waldweg zurück.
39 »Es gibt Tage, da finde ich das Leben in Himmelstal trotz allem ziemlich okay«, sagte Corinne. »Dann denke ich, irgendwie werde ich das Leben schon schaffen.«
Sie saßen dicht nebeneinander auf Corinnes Jacke im Gras. Jenseits der Stromschnelle kreisten die Schwalben um ihre Nester in der Felswand, weit im Westen schienen die schneebedeckten Gipfel in der klaren Luft auf Wolkenkissen zu schweben, wie eine Welt für sich, mit eigenen Naturgesetzen.
»Ich habe diese wunderbare Landschaft, ich habe mein Singen und meine Auftritte. Und jetzt habe ich auch noch dich, Daniel. Dass du hierhergekommen bist, das ist das Beste, was mir passieren konnte.«
Sie nahm seine Hand und drückte sie. Er erwiderte den Druck, dachte jedoch, dass es wahrlich nicht das Beste war, was ihm passieren konnte.
»Ich habe immer gedacht, dass ich in Himmelstal ein erträgliches Leben führen könnte, wenn es nur jemanden gäbe, dem ich vertrauen kann. Einen einzigen Menschen, bei dem ich mich sicher fühle.«
»Ich werde nicht hierbleiben, das weißt du«, sagte er bestimmt.
Sie schaute an ihm vorbei und hinauf zu den schneebedeckten Gipfeln und lächelte still, als hätte sie ihn gar nicht gehört.
»Aber«, fuhr sie nach einer Pause fort, »es gibt immer noch etwas, was mir wirklich fehlt. Am Anfang habe ich nicht darüber nachgedacht, aber jetzt fehlt es mir immer mehr. Weißt du, was das ist?«
Daniel konnte sich alles Mögliche vorstellen. Er schüttelte den Kopf.
»Kinder.« Sie stieß das Wort mit einem kleinen, geflüs
terten Seufzer aus. »Seit Jahren höre ich nur die Stimmen von Erwachsenen, meistens Männer. Nie die Rufe von spielenden Kindern, Säuglingsgeschrei, Babyjuchzen. Lachen! Oh, ich würde alles dafür geben, wenn ich Kinderlachen hören könnte. Du weißt schon, dieses glucksende, sich überschlagende Lachen. Die totale, unbefleckte Freude. Ohne den geringsten Zweifel, dass das Leben durch und durch gut ist.«
Ihre Stimme brach, sie verbarg das Gesicht in den Händen, und ihre Schultern schüttelten sich im lautlosen Weinen. Es war herzerweichend.
Er nahm sie in die Arme und hielt sie fest. Als sie an seiner Brust weinte, wurde ihm klar, dass es ihr nicht nur um Kinder an sich ging.
»Hast du da draußen eigene Kinder?«, fragte er vorsichtig.
»Nein.« Er spürte, wie ihre Lippen sich am Hemdenstoff über seiner Brustwarze bewegten. »Aber ich mag Kinder.«
Und dann weinte sie wieder. Über die Kinder, die sie nie gehabt hatte und nie bekommen würde.
Die Kirchenglocke begann zu läuten. Drüben im Westen sah man die Silhouette eines Raubvogels am Himmel. Er kreiste immer höher und verschwand schließlich über dem Kamm des Berges. Auf der Straße näherte sich ein kleiner Bus. Er bremste und blieb stehen, aber niemand stieg aus.
»Was ist das für ein Auto?«, fragte Daniel.
Corinne schaute auf. Sie rieb
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