Himmelstal
sollte er mich doch töten. Lieber das, als so isoliert zu sein.«
»Gisela Obermann und du, ihr scheint euch ziemlich gut zu kennen?«
Corinne schwieg einen Moment.
»Ich mag sie ganz gern«, sagte sie. »Und ich glaube, sie mag mich auch. Aber sie ist Ärztin. Man kann mit einem Arzt nicht offen reden. Es bleibt ein durch und durch ungleiches Verhältnis. Sie hat totale Macht über mich. Ein falsches Wort von mir, und sie kann mich in die Katakomben schicken.«
Da war wieder dieses Wort.
»Die Katakomben?«
»Habe ich das gesagt? Ach, das ist so ein Himmelstal-Ausdruck. Es bedeutet härtere Methoden.«
»Wie zum Beispiel?«
»Gestrichene Vergünstigungen. Starke Medikamente. Geschlossene Abteilung. Ungefähr so.«
»Es gibt hier also eine geschlossene Abteilung?«
»Ja. Wenn ein Bewohner allzu gewalttätig und gefährlich wird, muss man die anderen vor ihm schützen. Ihn einsperren und zudröhnen. Sonst würden die Bewohner sich gegenseitig umbringen, und es gäbe bald kein Studienmaterial mehr.«
Sie stand auf, holte den Krug mit Saft aus dem Kühlschrank und schenkte nach.
»Warum heißt es Katakomben?«, fragte Daniel.
»Vor langer Zeit gab es hier ja ein Kloster. Aus dieser Zeit gibt es nur noch den Aussätzigenfriedhof. Die Nonnen wurden nicht dort begraben und auch nicht im Dorf. Sie hatten unter dem Kloster angeblich eine unterirdische Grabkammer. Das heißt unter der jetzigen Klinik. Man erzählt sich scherzhaft, dass dort, in den Katakomben, unbequeme Bewohner untergebracht werden. Das ist Him
melstal-Humor. Ich hätte diesen Ausdruck nicht verwenden sollen.«
»Läufst du Gefahr, in den Katakomben zu landen, Corinne?«
»Nein, ich wollte damit nur sagen, dass die Ärzte totale Macht über uns haben. Man sagt das halt so. Nimm es nicht so ernst. Aber Gisela ist meine Therapeutin und Ärztin, nicht meine Freundin. Freundschaft kannst du hier nicht erwarten. Aber manchmal ein wenig menschliche Nähe. Das habe ich gesucht.«
»Suchst du das auch bei mir? Ein bisschen menschliche Nähe?«
Sie lächelte amüsiert.
»Ich habe das Gefühl, dass ich vielleicht, zum ersten Mal hier in Himmelstal, auf … ein bisschen mehr hoffen kann. Ich traue dir nicht ganz, Daniel. Und du vertraust mir nicht ganz. Das sollst du auch nicht. Noch nicht. Aber wir können uns besser kennenlernen. Und wenn wir uns kennen, können wir einander vielleicht vertrauen. Und Freunde werden. Würdest du mein Freund werden wollen?«
Sie sagte es mit einem Beben in der Stimme, als bäte sie um etwas Unerhörtes und fürchtete, eine abschlägige Antwort zu bekommen.
»Ich wähle meine Freunde mit Bedacht. Aber von denen, die ich bisher in Himmelstal getroffen haben, hast du die besten Chancen«, sagte Daniel.
Corinnes Gesicht hellte sich auf.
»Genau so muss man denken. Jetzt habe ich noch ein bisschen zu tun. Sehen wir uns in der Bierstube? Oder in der Kirche?«
»Lieber in der Bierstube. Danke, dass ich bei dir trainieren durfte.«
»Du kannst jederzeit wiederkommen.«
Sie brachte ihn zur Tür und umarmte ihn vorsichtig. Er
spürte ihre nassen Haare und roch den Duft ihrer Seife. Er nahm ihr Armband zwischen die Fingerspitzen, ganz leicht und sachte, aber die Berührung ließ sie zusammenzucken, und sie zog ihren Arm weg.
»Nimmst du dieses Armband nie ab?«, fragte er.
»Nein.«
»Es bedeutet dir sehr viel, nicht wahr?«
»Es erinnert mich daran, wer ich bin«, sagte sie. »Bis bald.«
Auf dem Rückweg überlegte Daniel, ob er die Abkürzung durch das Tannenwäldchen nehmen oder über die Autostraße, die zur Klinik führte, gehen sollte. Die Tannen weckten unangenehme Erinnerungen. Er entschied sich dennoch für den Weg durch den Wald. Er hatte den Eindruck, dass die meisten Bewohner diesen Weg benutzten, er war sehr ausgetreten, und überall lagen Zigarettenkippen und Müll. Daniel wollte nicht als feige dastehen. Er wäre am liebsten gelaufen, aber er zwang sich, ruhig und gemessenen Schrittes zu gehen. Er versuchte sogar zu pfeifen.
Plötzlich sah er jemanden zwischen den Bäumen sitzen. Er beruhigte sich, als er sah, dass es eine Frau war.
Die Szene hatte nichts Bedrohliches. Die Frau saß auf einem moosbewachsenen Stein und rauchte. Sie starrte abwesend vor sich hin und schien Daniel nicht bemerkt zu haben. Die hochhackigen Schuhe lagen vor ihr auf dem Boden.
»Frau Doktor Obermann«, sagte Daniel erstaunt.
Sie hob müde den Blick und schaute dann in eine andere Richtung. Der Geruch von ihrem
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