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Himmelstal

Himmelstal

Titel: Himmelstal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Hermanson
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sich die Tränen aus den Augen, um besser sehen zu können.
    »Das da«, schnaubte sie. »Das ist ein Safari-Auto. Mit Psychopathen-Touristen. Wahrscheinlich sind gerade fünfzehn Ferngläser auf uns gerichtet.«
    »Der Teufel soll euch holen«, sagte sie in Richtung des
Autos und streckte den Mittelfinger in die Luft. Das Auto setzte sich wieder in Bewegung und fuhr weiter durchs Tal.
    »Gastforscher aus der ganzen Welt kommen her und studieren uns. Meistens sitzen sie geschützt in den Konferenzräumen oder den Gästeunterkünften. Aber manchmal begeben sie sich in diesem Bus auf einen Abenteuerausflug. Er hat schusssichere Scheiben. Und sie haben die strenge Anweisung, sie auf keinen Fall herunterzukurbeln.«
    Corinne schaute auf ihre Uhr und wischte noch ein paar Tränen weg.
    »Die Messe beginnt in einer halben Stunde«, stellte sie fest.
    Dann ging ein Licht in ihren Augen an. Nicht in voller Stärke, mehr wie das entfernte Glitzern einer nächtlichen Stadt. Sie legte eine Hand auf seine Schulter und sagte:
    »Komm mit mir in die Kirche, Daniel. Ich würde mich so freuen. Du brauchst nur dazusitzen. Tu es für mich.«
     
    Das Licht, das in die kleine Kirche strömte, wurde von den Glasmalereien gedämpft und gefärbt. Im ersten Moment sahen sie alt aus, aber die Malereien stammten offenbar aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Stil war grob naturalistisch, die Farben grell.
    Die Motive ließen ihn an das denken, was er in der Bierstube über Pater Dennis gehört hatte: dass er pädophil sei und sich in Jesu Namen gewaltsam an seinen Sonntagsschülern vergriffen hatte und sich in einem Fall sogar eines Mordes schuldig gemacht hatte.
    Auf einem der Bilder saß ein wunderschöner Jesus mit zwei kleinen Kindern, sie trugen lockere Togas, die jeden Moment hätten herabfallen können. Ein goldgelocktes Mädchen lehnte sich sehnsüchtig an Jesu Hüfte, und ein
kleiner Knabe versuchte, von seinem Schoß zu klettern, als würde er plötzliches Unheil ahnen. Seine Kleidung war hochgerutscht und entblößte seinen kleinen rundlichen Penis. Es war, als hätte Pater Dennis dieses Motiv höchstpersönlich bestellt.
    Das andere Bild zeigte ein Lamm, das mit seinem gebeugten Vorderbein sehr geschickt ein großes Holzkreuz festhielt. Um seine Hufe breitete sich ein roter Fleck aus, vielleicht eine Blutlache. Auch dieses Bild löste bei Daniel unangenehme Assoziationen aus. Das Lamm starrte idiotisch ins Leere, und er konnte Samanthas heiseres Flüstern hören: »Lämmchen.«
    Das dritte Fenster stellte ein Gruppe dicker Cherubim dar, die umeinander kreisten wie ein Schwarm geflügelte Marzipanschweinchen. Jede Menge pfirsichfarbene Haut, geschürzte Kussmünder und kleine Popos. Pater Dennis' Vorstellung vom Himmelreich?
    Sie setzten sich in die hinterste Bank. Aus den Lautsprechern kam Orgelmusik vom Band. Es waren nur noch ein paar andere Besucher da. Alle saßen für sich und mit großem Abstand voneinander.
    Kurz darauf erschien Pater Dennis in seinem Priestergewand. Er sah eigenartig aus. Auf der Stirn hatte er eine tiefe Delle, und auf einer Wange war die Haut ganz straff und hellrosa. Die Spuren von einem Überfall. Kinderschänder wurden überall geächtet und verfolgt, Himmelstal war da keine Ausnahme.
    In der Vorstellungswelt von Pater Dennis war die Verfolgung jedoch zu einer Art Auserwähltsein erhöht worden. Ein Martyrium, das dem eines Heiligen in nichts nachstand. Er scheute sich nicht einmal, Vergleiche mit dem Leiden Jesu anzustellen und fand, dass er besser verstand, was der Erlöser durchgemacht hatte, wenn seine Umwelt ihn verachtete. Er nahm jede Beschimpfung, je
den Hassbrief oder Faustschlag entgegen wie einen Gunstbeweis, ein Zeichen für die Solidarität mit den Geächteten und Gequälten.
    Aus verständlichen Gründen führte der Priester ein zurückgezogenes Leben. Er wohnte in einem Zimmer im Krankengebäude, von wo aus er mit der Umwelt über seine Homepage auf der Intranet-Seite des Tals kommunizierte und häufig Rundmails verschickte. Er wurde täglich in einem der kleinen Elektroautos in die Kirche gebracht. Man war der Auffassung, das religiöse Tun des Paters war wichtig für das Tal, und deshalb gewährte ihm die Klinikleitung diesen Sicherheitsservice. Das machte ihn noch verhasster bei den anderen Bewohnern, die nicht mit dem gleichen Schutz rechnen konnten.
    Eine schmale, lange, mit feinkörnigem Sand gefüllte Kiste lief an der Balustrade der Altarschranke entlang, wie ein

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