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Himmelstal

Himmelstal

Titel: Himmelstal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Hermanson
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Blumenkasten. Heruntergebrannte Kerzenstümpfe steckten im Sand. Pater Dennis steckte eine neue Reihe Kerzen hinein und zündete sie eine nach der anderen an. Er murmelte jedes Mal ein kurzes Gebet und bekreuzigte sich.
    »Das ist für die Toten«, flüsterte Corinne mit gesenktem Kopf.
    Sie knieten mit gefalteten Händen in der Bank. Daniel schielte zu ihr hinüber.
    »Was für Tote?«
    »Bewohner, die hier in Himmelstal gestorben sind.«
    Der Priester machte einen Schritt zurück und betrachtete andächtig die brennenden Kerzen, dabei grollte eine Bachfuge aus den Lautsprechern. Daniel zählte die Kerzen.
    »Vierundzwanzig. Wie viele sind eines natürlichen Todes gestorben?«, fragte Daniel.
    »Das kommt darauf an, was du unter natürlich ver
stehst. In Himmelstal ist es natürlich, durch Mord, Selbstmord oder eine Überdosis zu sterben«, murmelte Corinne und schaute auf ihre gefalteten Hände. Es sah aus, als würde sie beten. »Es sind vermutlich viel mehr als vierundzwanzig. Einige wurden nie gefunden. Sie verschwinden einfach.«
    Die Orgelmusik verstummte. Pater Dennis war auf die Kanzel gestiegen.
    In seinen Mail-Betrachtungen gab es zwei Lieblingsthemen, auf die er immer wieder zu sprechen kam. Das eine war das Lamm : das reine Opferlamm, weiß und unschuldig. Der Herr kümmerte sich um seine Herde. Der gute Hirte.
    Das andere war die Wunde : Jesu herrliche blutende Wunden. Die Wunden der Märtyrer. Pater Dennis' eigene schmerzende Wunden, die er wie Schmuckstücke trug.
    Manchmal brachte er die beiden Themen auch zusammen: Die Wunden des Lammes .
    Daniel war gespannt, welches der beiden Themen er für die heutige Predigt gewählt hatte.
    Pater Dennis räusperte sich und begann:
    »Lasst uns für einen Moment so tun, als seien wir Engel.«
    »Da musst du dich ziemlich anstrengen«, sagte Corinne leise vor sich hin.
    »Wunderbare, reine Engel mit schneeweißen Flügeln, die da oben im Himmel schweben. Wir schweben über den Alpen und sehen sie unter uns. Das müsste schön sein, nicht wahr? Und dann schweben wir über Himmelstal, und was glaubt ihr, wie es da aussieht? Ich will es euch erzählen. Es ist eine bergige Landschaft, keine besonders hohen Gipfel, sanfte Wellen. Und dann plötzlich eine Kerbe! Eine Schnittwunde mittendurch. Schmal. Tief. Schmerzhaft tief. Das ist Himmelstal. Eine Wunde . Vom eisigen
Messer des Gletschers geschnitten. Meine Freunde: Wir leben auf dem Grund einer Wunde! Ich und ihr, wir sind die kleinen Würmer in der Wunde. Wir infizieren alles, halten sie offen, sorgen dafür, dass der Eiter fließt. Das ist unser Los. Auf dem Grund einer Wunde zu leben.«
    Die Stimme des Priesters war heftig, fast atemlos.
    Daniel war übel.
    »Entschuldige bitte, aber ich halte das nicht mehr aus«, flüsterte er Corinne zu. »Und ich möchte gerne noch in die Bibliothek, bevor sie zumacht.«
    Er drückte zum Abschied ihre Hand und schlich hinaus.
    Als er zur Klinik zurückging, kam er an einem der Transporter der Wachen vorbei. Die Wachen gingen langsam auf beiden Seiten des Flusses entlang und stocherten mit langen Stecken im wirbelnden Wasser.
    Während er ihnen zuschaute, spürte er, wie die Erde unter seinen Füßen ein klein wenig bebte. Eine schwache, kaum wahrnehmbare Bewegung, die die Glockenblumen auf ihren Stängeln schwingen ließ, obwohl es ein windstiller Sommerabend war. Als ob das Tal schauderte.

 
    40  Die Bibliothek war still und verlassen. Außer dem Bibliothekar war kein Mensch zu sehen. Daniel ging zum Tresen.
    »Ich würde gerne etwas über Falken lesen«, sagte er.
    Der kleine, glatzköpfige Mann schob seine Brille zurecht und ging mit ihm zu einem Regal.
    »Hier. Die Welt der Raubvögel «, sagte der Bibliothekar und reichte ihm einen großen Band mit einem Königsadler auf dem Umschlag. »Sonst noch etwas?«
    »Nein danke. Genau das habe ich gesucht. Danke für die Hilfe«, sagte Daniel und wandte sich zum Gehen.
    »Nichts über den Zweiten Weltkrieg? Wir haben hier etwas sehr Interessantes.«
    Daniel drehte sich noch einmal um. Der Zweite Weltkrieg war eine Leidenschaft des Bibliothekars. In seiner Wohnung im Dorf hatte er Karten, auf denen markierte er die Stellungen der Deutschen und der Alliierten mit Nadeln, er informierte sich genau über die Neuerscheinungen auf diesem Gebiet und sorgte dafür, dass die Bibliothek von Himmelstal es in dieser Hinsicht mit einer Universitätsbibliothek aufnehmen konnte.
    Daniel wusste, dass der glatzköpfige kleine Mann eine

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