Himmelstiefe
wollte das Zimmer verlassen, ohne den Boden zu berühren oder indem ich so leicht war, dass der Holzboden keine Notiz von mir nahm. Es funktionierte. Ich ging über den Fußboden und die Treppe hinab und spürte nur ein feines Kribbeln unter meinen Fußsohlen. Ich war so leise wie ein Geist oder wie ein Engel, wie Neve vielleicht. An der Treppe drehte ich mich noch einmal um. Leo schlief tief und fest in seinem dunklen Reich aus schwarz und rot. Ich nahm lautlos meine Sachen vom roten Teppich auf, balancierte auf Geisterfüßen die Treppe hinab und zog mich in der Küche schnell an. Das schwarze T-Shirt von Leo, das er mir zum Schlafen geliehen hatte, legte ich über die Couch. Einen Moment war ich versucht, es mitzunehmen. Es duftete so wunderbar nach ihm. Aber ich beherrschte mich. Ich schlüpfte aus der Tür und lief den Berg hinauf zum Turmhaus. Ich brauchte ein paar stabile Sachen. Ich wollte meine Strafarbeit schnell hinter mich bringen. Ich spürte ein Hochgefühl, weil ich mit meinen besonderen Gaben so viel anfangen konnte, wenn ich es wirklich wollte. Ich wehrte mich nicht mehr gegen sie. Sie waren da und sie konnten sehr nützlich sein, wenn man sich nicht von seinen Gefühlen schütteln ließ. Ich verstand, warum Jerome in der magischen Welt zu einem selbstbewussten Mann geworden war. Wegen der Konzentration auf das, was in einem steckte und dass man durch das Chaos übersinnlicher Fähigkeiten, die in einem tobten und raus wollten, dazu gezwungen war, sich nicht mehr zum selbstmitleidigen Opfer seiner verqueren Gefühle zu machen. Ich beschloss, ab jetzt brav meine Aufgaben an der Akademie zu erledigen und ansonsten nicht mehr groß aufzufallen. Ich würde im Alleingang herausfinden, zu was ich fähig war. Niemand, außer Leo, wusste von meinen Windeigenschaften. Vielleicht würde mir im Selbststudium genug gelingen, so dass ich einen der Durchgänge heimlich nutzen konnte. Im ersten Moment frohlockte ich bei dem Gedanken. Im zweiten Moment tat sich wegen ihm ein riesiger schwarzer Krater vor mir auf. Wozu eigentlich noch?! Zu Tim wollte ich nicht mehr… Für einen Augenblick schien mir der Halt unter den Füßen abhanden zu kommen. Dann fiel mir jedoch ein, was ich gelesen hatte und die Gespräche mit Jerome. Es gab Größeres zu tun, als irgendeiner Jugendliebe hinterher zu weinen. Ich würde darüber hinwegkommen. Alle sagten es. Und es stimmte. Ich hatte die Nacht mit einer Trophäe verbracht, um die sich alle rissen. Ich besaß besondere Kräfte, von denen kaum einer was ahnte. Mir stand die Welt offen, die Magische und die Reale.
„Hey!“, schrie mir jemand von der Seite in Ohr.
„Sag mal, hast du was in die Ohren gestopft? Ich hab dich schon drei Mal gerufen!“
Es war Neve, die neben mir herlief. Sie musste mich eingeholt oder neben mir aus dem Wald gesprungen sein. Ich war so in meine Gedanken versunken gewesen, dass ich sie nicht bemerkt hatte.
Ich spürte, dass ich immer noch sauer auf sie war. Sie hatte meine Welt zerstört, die bis gestern noch eine andere gewesen war. Okay, ich hatte sie dazu gebracht und sie konnte nicht wirklich was dafür. Trotzdem, ich gab ihr irgendwie die Schuld.
„Wo bist du gewesen? Ich habe dich überall gesucht! Ich habe mir Sorgen gemacht. Ich bin verantwortlich für dich“, schimpfte sie und klang gleichzeitig beunruhigt.
„Ich war heute Nacht bei Tim in Berlin und hab ihm die Meinung gesagt …“
„Was?“ Für einen Moment glaubte Neve, was ich sagte und sah erschrocken aus.
„Das kann ja nicht sein. Ich wollte wegen deinem Verschwinden gerade zum Rat …“ Sie verdrehte die Augen, als sie begriff, dass ich sie nur veralberte.
„Geht das immer gleich vor den Rat, wenn man mal eine Nacht auswärts verbringt?“ Ich konnte nicht anders. Alles, was ich sagte, hatte einen bissigen Unterton.
„Man, Kira, es tut mir alles so leid … Es ist doch gar nicht sicher, ob Luisa und Tim zusammen sind …“
Ich unterbrach sie.
„Es ist mir egal. Es war nur eine dumme Verliebtheit, die jetzt nicht mehr in mein Leben passt. Du hast recht. Alle haben recht.“
Neve sah mich verwirrt an.
„Ich war bei Leo …“
„Bei Leo? Warum ausgerechnet bei dem?“
„Weiß nicht, einfach so. Um hier anzukommen.“
Neve machte ein nachdenkliches Gesicht.
„Na, hoffentlich bricht er dir nicht dein Herz.“
„Quatsch. Ich fall auf ihn schon nicht rein.“
„Er kann sehr charmant sein …“
„Ich weiß.“ Irgendwie ärgerten mich Neves Bemerkungen,
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