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Himmelstiefe

Himmelstiefe

Titel: Himmelstiefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daphne Unruh
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wusstest du von mir? Und warum weiß Jerome …“
    Aber Atropa antwortete mir nicht. Sie flüsterte nur nervös:
    „Geh jetzt. Versteck dich. Irgendwo … am besten, wo du selbst noch nie gewesen bist. Nur diese Nacht. So werden sie dich nicht aufspüren. Morgen komme ich, wenn die Sonne aufgeht. Ich finde dich …“ Atropa, also Clarissa, stockte seltsam, als wenn ihr das Sprechen immer schwerer fiel.
    „… Und dann bringe ich dich in Sicherheit. Du musst für eine Weile weg. Ich kenne Leute in Indien …“
    „Indien?“ Meine Stimme rutschte in einen hohen Piepston ab. Jetzt also doch Indien.
    „Du musst eine Weile fort. Es ist dein Alibi für die reale Welt. Niemand aus der magischen Welt wird deshalb so schnell darauf kommen, dass du dich nun tatsächlich dort versteckst. Du musst untertauchen … bis Gras über die Sache gewachsen ist. Dann kannst du ein neues Leben anfangen …“
    Ich war perplex. Es war, als würde alles, was in mir stand, in sich zusammenfallen. Was Clarissa vorschlug, war wie ein Todesurteil. Gerade hatte ich mich an ein neues Leben gewöhnt und schon war es wieder vorbei. Gerade hatte ich den allergrößten Verlust hinnehmen müssen und Tim verloren. Und nun sollte ich alles zurücklassen. Alles. Um, wahrscheinlich nach Jahren, erst wieder ein freies Leben führen zu dürfen. Es war undenkbar. Und doch sah ich ebenfalls keine andere Lösung. Jerome und auch der Rat würden erst von mir ablassen, wenn sie mich für tot hielten.
    „Sie müssen mich für tot halten“, resümierte ich und es kam mir so vor, als wenn jemand anderes das sagte.
    „Genau. Kira, ich muss gehen. Ich habe keine Kraft mehr. Ich bin eigentlich schon tot, weißt du …“ Sie versuchte ein Lachen, aber es kam nur ein Hauchen, als bliese jemand seinen letzten Atem aus.
    „Ich muss … mich … ausruhen … Morgen bin ich wieder da … Mach … so lange keine Dummheiten. Hörst du?!“
    Ich schüttelte den Kopf. Ich weiß nicht, ob sie es noch mitbekam. Clarissa war verschwunden. Auf einmal verstand ich, warum sie nicht immer bei mir war. Sie musste sich ausruhen, vielleicht in ihrem Grab. Ein Schauer lief mir über den Rücken. Wo war dieses Grab? Es machte alles noch unheimlicher, aber es ergab Sinn. Ich war wieder allein im Dunkeln, in einer unheimlichen Unterführung, an einem idealen Ort für Verbrechen. Ich setzte die Mütze meines Kapuzenshirts auf und war froh, mich beim Ankleiden dafür entschieden zu haben. Es hielt die Herbstkälte einigermaßen ab. Wenn ich einen leichten Laufschritt einhielt, würde mir nicht so schnell kalt werden. Ich lief einfach los, über die Friedrichsbrücke, die Bodestraße entlang, erst mal in die entgegengesetzte Richtung von Jerome, Leo und Igor.
    ***
    Ich joggte an der Spree entlang und wusste nicht, wohin. Morgen würde Atropa wieder bei mir sein. Bis dahin musste ich meine Zeit vertreiben. Wie konnte man so viele besondere Kräfte haben und sich trotzdem so hilflos fühlen? Der Nieselregen lief mir in den Nacken. Ich machte eine kleine Pause auf einer Bank und starrte auf die beleuchteten Fenster der Häuser, die auf der anderen Seite des Flusses standen. Seit Jahren war ich mit einem Geist befreundet, der als gefährlich galt und deshalb sterben musste. Ich konnte das nicht erfassen. Es war einfach zu viel für mich. Clarissa, meine Beschützerin. Sie hatte mich ausgesucht, um für ihr eigenes Leben Buße zu tun. So war das also, wenn man starb und noch nicht fertig war mit der Welt.
    Und ich war zu Hause, aber durfte nicht nach Hause. Was hatte ich nun davon? Auf einmal sehnte ich mich nach nichts mehr, als ganz normal, wie andere Kinder, mit den Eltern auf dem Sofa zu sitzen und einen  Film im Fernsehen zu schauen. Etwas, was ich sonst immer verabscheut hatte, wo ich drüber gestanden hatte, was ich einfältig und sinnlos fand. Jetzt tauchte dieses Bild vor meinem inneren Auge auf. Gregor und Delia, ich in der Mitte, alles friedlich. Ich fühlte mich furchtbar einsam. Mir wurde klar, dass ich jeglichen Halt verloren hatte. Ich hatte nichts mehr, keine Familie, keinen Freund, keine Freundin, kein Zuhause. Nur noch einen Geist, der manchmal auftauchte. Ich spürte die Nässe im Nacken. Ich musste irgendwo hin, wo es trocken war.
    Ich stand auf und setzte mich wieder in Bewegung. Plötzlich vernahm ich dicht neben mir ein Stöhnen. Da, auf der Bank neben mir, lag jemand. Notdürftig zugedeckt mit einer alten Picknickdecke, deren wasserabweisende Seite nach oben

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