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Himmelstiefe

Himmelstiefe

Titel: Himmelstiefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daphne Unruh
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aufgelöst hatte.
    Ich musste es versuchen. Ich rückte den Stuhl vom Tisch ab, vergewisserte mich, dass der Kneipenbesitzer schlafen gegangen war –– und begann, mich zu versenken.
    In der magischen Welt brauchte man sich seine Fähigkeiten nur wünschen. Hier jedoch musste man gegen alle ehernen Gesetze der Physik angehen. Sie waren wie ein Kraftfeld, das einen ordentlichen Widerstand bildete und keine Ausnahmen dulden wollte. Ich folgte der Meditation, wiederholte den Text immer wieder. Hier war auch die Rede von den Geistern der Elemente, dass man sie sich vorstellen musste, deutlich und genau, und sie dazu bringen musste, zurückzuweichen, um die wahre Natur alles Seins hervortreten zu lassen, die nicht fest, sondern ungreifbar war. Dieser Yogalehrer war entweder ebenfalls ein Eingeweihter oder er wusste nicht wirklich, wovon er redete, so wie viele Esoteriker.
    Meine Hände verschwanden, aber sie wurden nach kurzer Zeit wieder sichtbar. Ich brauchte eine starke Suggestion, ein Ziel, einen gewichtigen Grund, warum ich unsichtbar sein wollte, nur dann konnte es gelingen. Es war seltsam, Engel, Gnome, Sylphen, Salamander und Undinen in der realen Welt nicht zu sehen, ihre Gestik und Mimik nicht abschätzen zu können, nicht zu wissen, ob sie mitarbeiteten, nur an fehlenden Ereignissen zu bemerken, dass sie sich wehrten, oder an der Abwehr von Ereignissen, die in der realen Welt nichts zu suchen hatten. Ich sah Tim vor mir. Ich wollte ihn unbedingt noch einmal treffen. Ich dachte so fest an ihn, bis ich glaubte, dass er vor mir stand. Ich befahl den Sylphen, mich umzuwandeln, den Engeln, nur noch ein Beobachter zu sein, eine innere Stimme von den Menschen, die ich aufsuchen wollte. Ich spürte wieder dieses Kribbeln, aber diesmal war es viel leiser und fühlte sich geordneter an. Ich sah an mir hinab und bemerkte, dass ich durchscheinend wurde wie Pergamentpapier. Jetzt ruhig bleiben und keine Panik bekommen. Dann war ich nur noch ein Schemen, so wie Atropa. Dann endlich, saß niemand mehr auf dem Stuhl. Nur noch ein halb leeres Glas mit Apfelschorle stand auf dem Tisch und eine löchrige Regenjacke hing über der Stuhllehne. Der Kneipenbesitzer würde sich wundern, wie ich hinausgekommen war, ohne die Tür aufzuschließen, ohne ein Fenster zu öffnen und ohne Jacke. Aber er würde nicht fragen. Das war gut.
    Erst blieb ich eine Weile auf dem Stuhl hocken. Dann lief ich durch den lang gezogenen Raum. Ich blieb unsichtbar. Ich hatte die Elemente im Griff. Sie gehorchten mir, aus unerfindlichen Gründen. Erde, Wasser, Luft genügten eigentlich nicht für meinen Zustand. Wahrscheinlich hatte Mortens genau so viele Talente gehabt wie ich, es nur für sich behalten. Ich sah in den großen Wandspiegel über der Theke und entdeckte kein Spiegelbild. Alles war in Ordnung. Ich war eingerastet auf diesen Zustand und hoffte, diesem Gefühl trauen zu können. Mehr noch, mir war nicht wirklich klar, ob ich mich wieder reibungslos materialisieren konnte. Laut Dr. Mortens oder dem Yogalehrer, der das Ganze nur als ein Aufwachen aus der Meditation verstand, musste ich dafür den Elementen befehlen, zusammen zu arbeiten, so wie bei meinem Ausbruch aus dem Grünen Raum . Ich hoffte einfach, dass sich das Maß der Konzentration, die dafür nötig gewesen war, mit dem nötigen Maß in der realen Welt vergleichen ließ. Aber das würde ich erst ausprobieren, wenn es so weit war.
    Jetzt bildeten nicht Straßen, sondern Gedanken meinen Weg. Ich stellte mir das Haus von Tim vor und stand im selben Moment in seinem dunklen Hausflur. Atropa würde erleichtert sein. So kamen wir schnell und ohne Probleme nach Indien. So war wohl auch Mortens gereist. Ich stand genau an der Stelle, wo mich die Schatten beinahe eingeatmet hätten. Alles war still. Es roch muffig, nach Kälte, nach Putz und nach Müll. Nein, das war kein Müll, das war der unangenehme Gestank, den die Schatten an sich hatten. Nur noch sehr abgeschwächt lag er in der Luft. Sie waren bereits hier gewesen. Ich stellte mir Tims Zimmer vor und fand mich vor seinem Bett wieder. Es funktionierte hervorragend. Ich fühlte mich stabil und schöpfte neue Hoffnung. Wenn sich dieser Zustand beliebig lange halten ließ, vielleicht musste ich dann nicht mal nach Indien, sondern konnte hierbleiben.
    Tim lag auf die Seite gedreht. Minchin schmiegte sich an seinen Rücken und umklammerte ihn mit ihrem Arm. Es sah besitzergreifend aus. Und das war es auch. Wie hatte Tim das bloß seinem

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