Himmelstiefe
vermeintliche Pennerin eine Welt betreten, die mir davor verborgen gewesen war. Ein heimliches Abkommen unterprivilegierter Menschen, die ohne viele Worte zusammenhielten. Ich war irgendwie dankbar.
Die kühle Apfelschorle tat gut. Ich sah mich um. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, wie farblos die reale Welt gegen die intensive Realität der magischen Welt wirkte. Die Apfelschorle war blass und um Apfel herauszuschmecken, brauchte man Fantasie. Dabei hatte ich noch vor nicht allzu langer Zeit die reifen Äpfel an den Bäumen nahezu vor mir gesehen, wenn ich hier meine Apfelschorle trank, weil der Barkeeper sie nie zu sehr verdünnte.
***
Als ich die Kneipe betreten hatte, war mir plötzlich klar geworden, was ich tun würde. Ich würde nicht in dieser Hilflosigkeit verharren, nein. Wenn ich morgen weg musste für lange Zeit, wenn es wirklich keinen anderen Weg gab, dann wollte ich vorher noch einmal alle sehen, meine Familie, meine Freunde, Tim … Und dafür musste ich meine Kräfte gebrauchen. Es konnte nicht sein, dass ich zu Hause war und nach allem, was ich gelernt und entwickelt hatte, so hilflos dastand wie am Anfang. Irgendwas musste darüber im Internet zu finden sein, irgendwas, auch wenn es unter Esoterik verbucht war. Ich suchte etwas Bestimmtes: wie man sich in der realen Welt gefahrlos unsichtbar machen konnte. So, wie Neve es tat. Von ihr wusste ich, dass es möglich war. Sie machte es immerzu. Und ich besaß Ätherfähigkeiten. In der magischen Welt hatten sie bereits funktioniert. Ich musste nur herausfinden, wie ich sie hier nutzen konnte. Was hieß es in meinem Fall schon, erst die Ausbildung zu beenden? Niemand würde mich ja ausbilden. Niemand konnte es. Es gab keine Erfahrungen damit. Stattdessen wollten sie mich auf eine Fähigkeit reduzieren oder inzwischen ganz meiner Kräfte berauben. Zwischendurch hatte ich das sogar als die beste Lösung empfunden. Wieder normal sein, vielleicht hin und wieder ein bisschen Malaria, aber dafür mit Tim zusammen sein. Bis Tim mir die Sache mit Minchin offenbarte … Ich würde Tim nicht aufgeben. Das wusste ich, seit ich es ohne die Hilfe von Jerome und ohne die Genehmigung des Rates allein nach draußen geschafft hatte. Ich war überzeugt, dass ich stärker werden würde als Minchin, das eherne Gesetz der Undinen brechen konnte, irgendwie, irgendwann. Ich brauchte meine Kräfte. Und ich musste sie in eine vernünftige Harmonie bringen. Hier draußen. War es nicht so, dass nur ich ganz allein einen Weg finden konnte?
Ich surfte durch das Internet und fand nichts von Belang. Die anderen Gäste gingen. Die Uhr unten auf dem Desktop zeigte bereits kurz nach zwei an. Der Barkeeper hatte mir wortlos zwei weitere Apfelschorlen hingestellt und einen Korb mit frischem Baguette.
Jetzt klapperte er mit einem Schlüssel. Ich wurde unruhig. Gleich würde er mich rausschmeißen und ich hatte noch nichts gefunden, was mich wirklich weiterbrachte. Er kam an meinen Tisch. Ich lehnte mich geschlagen zurück. Doch er warf mich nicht raus, sondern stellte mir stattdessen eine vierte Apfelschorle hin. Ich sah ihn perplex an.
„Ich geh hinten schlafen. Nimm die Couch in der Ecke, wenn du müde wirst …“ Er nickte zur Bekräftigung. Ich nickte zurück. Vor Dankbarkeit hatte ich einfach keine Worte. Ich sah, wie er die Eingangstür abschloss und die großen dunkelgrünen Jalousien vor den Fenstern eine nach der anderen im Boden einrasteten. Jetzt wusste ich, dass er im Anschluss an den Gastraum auch gleich seine Wohnung hatte. Ich fühlte mich hier sicher. Ich hatte ein hervorragendes Versteck gefunden. Ich war so dankbar.
Die Aufregung hielt mich wach, obwohl ich eigentlich hundemüde war. Eine halbe Stunde später fand ich endlich etwas auf der Seite eines kleinen Yogazentrums. Es waren Meditationsübungen, die ein Yogalehrer auf der Grundlage der Aufzeichnungen eines Arztes im 18.Jahrhundert entwickelt hatte, der oft nach Indien gereist war. Schon wieder Indien. Sein Name war James Mortens und ließ keinen Zweifel, dass es sich um jenen Arzt aus England handelte, der die Macht über drei Elemente, Erde , Wasser, Luft, besessen hatte. Eine der Yoga-Übungen trug den Namen „reine Luft“. Die Bezeichnung stammte von Mortens. Der Yogalehrer beschrieb dazu in Bild und Text eine ziemlich komplizierte Verrenkung, die der Übende fünf Minuten lang zu halten hatte. Ich war mir allerdings sicher, dass Mortens damit tatsächlich seine materielle Gestalt in Luft
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