Himmelstiefe
unterbrochen hatte.
„Ich würde dich gern mal besuchen in der Firma.“
„So?“ Er hielt einen mit Tiramisu gefüllten Löffel in der Hand, aber vergaß ihn zum Mund zu führen.
„Also, ich meine so richtig, einen ganzen Tag lang. Ich will verstehen, was du dort machst, wie das alles genauer funktioniert.“
Seine Miene wechselte von überrascht über erwartungsvoll, dass ich mich endlich von mir aus für seine Firma interessierte, bis zu Skepsis, dass das vielleicht etwas plötzlich kam. Sein Blick bekam etwas typisch Stechendes.
„Damit du dem Grünschnabel aus deiner Klasse den Kopf zurechtrücken kannst?!“
„Quatsch, nein … es ist einfach …!“ Mein Vater grinste, sein Urteil stand bereits fest. Und blöderweise war es nicht falsch. Wenn man in die Enge getrieben wurde, half nur rundum offenes Zugeben. Es machte immer einen weitaus besseren Eindruck, als sich zu rechtfertigen. Plötzlich war man wieder unangreifbar. Das hatte ich mir auch von ihm abgeguckt. Also sagte ich:
„Ja, warum denn nicht?!“ und lächelte breit. Gregor starrte mich einen Moment an. Es funktionierte. Dann lächelte er ebenfalls breit, erinnerte sich an den Löffel mit dem Tiramisu, schob ihn sich in den Mund und sagte schmatzend:
„Jederzeit … Für unsere besten Leute haben wir immer ein offenes Ohr!“
Er kreuzte mit einem verschwörerischen Lächeln seinen Löffel mit meinem, als wollte er ein Duell eröffnen. Wir kämpften ein bisschen im Tiramisu. Solche Momente mit Gregor liebte ich.
„Ich wollte dir sagen, du bist nicht ernsthaft krank, ich bin mir sicher. Mach dir keine Sorgen. Schließlich bist du die Tochter von Gregor Wende! Mach dir einfach keine Sorgen, okay. Auch, wenn …“
Ich versuchte, den Sinn von Gregors Worten zu erfassen. Obwohl er offensichtlich war, schien er irgendeinen tieferen Sinn zu verschleiern, einfach, weil diese Art Worte aus Gregors Mund ungewöhnlich waren. Bis auf den Satz, dass Kinder von Gregor Wende natürlich nicht ernsthaft krank wurden, passten sie nicht zu ihm. Das Wort „Sorgen“ musste er kurz vorher in einem Wörterbuch nachgeschlagen haben.
Plötzlich ging das Deckenlicht an und Delia stand in der Tür.
„Was ist denn hier los?“
„Na, das siehst du doch. Wir haben etwas auszufechten. Willst du auch einen Löffel?“
Gregors Tonfall klang leicht gereizt. Es war nicht zu überhören, dass er auf diese Unterbrechung überhaupt keine Lust hatte, genau so wenig wie ich. Natürlich wollte Delia keinen Löffel und Gregor wusste es. Sie war eigentlich immer auf Diät. Und einen Sinn für unkonventionelle Verhaltensweisen hatte meine Mutter leider überhaupt nicht. Sie besaß keinen Humor. Gregor sagte, darüber müsse man hinwegsehen. Das sei bei allen besonders schönen Frauen so. Man konnte eben nur das eine haben oder das andere. Ihm fiel natürlich nicht auf, dass er mich damit zu den „nicht besonders schönen Frauen“ zählte. Es gab mir einen Stich, obwohl es ja stimmte.
Meine Mutter nahm uns wie selbstverständlich die Esslöffel aus den Händen. „Ich habe noch mal mit Dr. Pötsch telefoniert, Kira. Auch wenn es dir plötzlich wieder gut geht, sollst du Morgen noch nicht in die Schule, sondern zu einem Internisten. Deine Symptome können auf etwas Ernstes hindeuten. Er hat mir einen empfohlen, Herr Dr. Neuhaus, den Chefarzt der inneren Abteilung im Klinikum Lichtenberg.“
Delia stellte uns zwei Schüsseln hin, schnitt jedem eine ordentlich viereckige Portion Tiramisu ab und legte Dessertlöffel daneben.
Morgen nicht zur Schule? Aber ich WOLLTE zur Schule. Ich brannte darauf Tim zu sehen, auch wenn mir jedes Mal schwindlig wurde bei dem Gedanken.
„Ich MUSS aber zur Schule. Ich habe Abi-Vorbereitungen und schon viel zu viel verpasst!“
Ich rührte das „ordentliche“ Tiramisu nicht mehr an. Gregor auch nicht.
„Kira hat recht. Sie kann auch noch nachmittags ins Krankenhaus fahren, falls das überhaupt nötig sein sollte“, sagte er.
„Aber sie war krank! Sie muss schlafen, sich erholen!“, warf Delia entrüstet ein.
Gregor winkte ab.
„Für ein Model ist das vielleicht wichtig, aber eine zukünftige Anwältin muss lernen, was auszuhalten. Da kommt es nicht auf den Schönheitsschlaf an, sondern auf Zähigkeit … Wenn sie was hat, wird ihr die Krankheit inzwischen nicht weglaufen.“
Gerade hatte ich mich noch gewundert, dass Gregor wegen meiner Grippe so einen tröstlichen Ton anschlug und es ihm wichtig war, mir zu sagen, ich
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