Himmelstiefe
sollte mich nicht deswegen sorgen. Aber jetzt schien doch ganz klar, woher der Wind wehte. Wahrscheinlich war es nur der gemütlichen Stimmung vorhin zuzuschreiben, dass er versucht hatte, diplomatisch zu sein. In Wirklichkeit wollte er nur, dass ich jetzt nicht schlapp machte. Dass ich funktionierte. Dass ich nicht krank zu sein hatte. Ich hasste ihn dafür. Trotzdem wollte ich im Zweifelsfall lieber so stark sein wie er, und nicht so ein Püppchen wie Delia.
„Ha, du hast ja keine Ahnung vom Modelberuf“, empörte sie sich. „Kira geht Montag zum Arzt und ab Dienstag in die Schule … wenn überhaupt! Punkt. Wenn sie krank ist, wird sie ihr Abitur sowieso nicht schaffen.“
Der schöne Moment mit Gregor war verdorben. Durch Delia und durch Gregor selbst. Gregor wollte, dass ich zu dem wurde, was er sich vorstellte. Und Delia ließ mal wieder durchblicken, dass sie es insgeheim gar nicht so schlimm fand, wenn ich das Abitur nicht schaffte. Schließlich hatte sie auch keins und deshalb Komplexe. In mir stieg Wut auf. Sie waren beide egoistisch und bekloppt. Ich hob die Schüssel mit dem Tiramisu in die Höhe, hielt sie fest in beiden Händen und dann feuerte ich sie mit einer ungeahnten Wucht gegen die Glastür zur Terrasse. Die Tür hielt stand, aber das Steingut zerbrach und Sahne mit Schokokrümeln verklebte die Scheibe.
„Gute Nacht“, sagte ich ruhig, als wäre nichts geschehen, wandte mich zur Tür und ging gemäßigten Schrittes die Treppe hinauf zu meinem Zimmer, selber leicht unter Schock stehend, dass ich so ausrasten konnte. Erstaunlicher Weise folgte mir keiner. Sonst waren beide immer auf mich losgegangen, wenn ich etwas angestellt hatte, Gregor lautstark voran, Delia schweigend hinterher, aber hundert Prozent auf seiner Seite. Jetzt brüllte Gregor mir nicht mal nach. Wahrscheinlich war mein Auftritt so krass, dass sie selber erst mal geschockt waren. Oben angekommen, schloss ich die Tür hinter mir, drehte den Schlüssel herum und lauschte. Gregor brüllte jetzt Delia an. Mir war es recht.
Ich setzte mich vor meinen Laptop und hoffte, dass jemand „da“ war. Atropa war „on“. Endlich. Sie amüsierte sich darüber, wie ich es meinen Eltern gezeigt hatte. Sie fand es gesund, dass ich endlich mal so richtig ausgerastet sei. Das sei gesund und schon lange mal überfällig gewesen. Abgesehen davon gäbe es schlimmere Eltern. Ich solle mich nicht so ärgern. Ich fragte sie, wo sie den ganzen Tag abgeblieben war? Etwa auch krank? Aber sie wich wie immer aus, sagte nur, der Rechner sei nicht mit ihr verwachsen, auch wenn das manchmal den Eindruck mache. Sie hatte Termine. Mir fiel auf, dass Atropa in den letzten vier Jahren, seit wir chatteten, noch nie im Urlaub gewesen war. Aber ich bohrte nicht weiter nach. Es machte keinen Sinn über Atropas Leben nachzugrübeln. Am Ende kam ich immer wieder auf dasselbe Ergebnis: Es gab eben Leute, die es genossen, dass sie eine Beziehung zu Jemandem hatten, der sonst nichts mit ihrem Leben zu tun hatte und darüber auch so wenig wie möglich wusste. So war das wohl bei Atropa. Atropa wollte jedes Detail über den Verlauf meines Dreitage-Fiebers wissen. Es interessierte sie brennend, als hätte ich ein ungewöhnliches Erlebnis gehabt.
Atropa: du musst mir genau sagen, was du hattest...
Kira: nichts wirklich schlimmes, 3 tage fieber
Atropa: wie hoch?
Kira: hoch, glaube ich, ich kann mich an nichts erinnern … außer blöde träume …
Atropa: was für träume?
Kira: okay, ich geb‘s zu … von tim …
Atropa: was genau?
Kira: willst du details? :)
Atropa: hat dich was in die tiefe gezogen …?
Kira: äh, ja
Atropa: hast du fressattacken …?
Kira: oh gott, ja …
Atropa: fleisch?
Kira: mann, atropa, sag mir endlich, was los ist
Atropa: hast du licht an?
Kira: deckenlicht, wenn du es genau wissen willst
Atropa: ok, je heller, desto besser. tür ist offen?
Kira: nee, abgeschlossen, damit delia und gregor mich nicht nerven
Atropa: kira, schließ bitte sofort wieder auf, SOFORT, hörst du? wenn was ist, müssen sie zu dir rein können
Kira: wieso … was soll denn sein? mir geht’s gut!
Atropa: MACH!!
Atropa jagte mir Angst ein. Warum glaubte sie, dass die Schatten keine Einbildung waren? Die Angst kroch in meinen Nacken und ich spürte, wie sich mir die Haare aufstellten. Aber in meinem Zimmer war alles in bester Ordnung. Ich schloss meine Tür auf. Von unten war nur noch Gemurmel zu hören. Wahrscheinlich saßen meine Eltern
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