Himmelstiefe
eine verrostete Eisenleiter, die in die Tiefe führte. Sollte ich da etwa hinabsteigen?
„Atropa?“, rief ich vorsichtig. Vielleicht war sie ja in der Nähe.
Aber ihr Name hallte nur unheimlich verzerrt von den gewölbten Wänden zurück. Wahrscheinlich war Umkehren das Vernünftigste. Aber wohin? Es gab keinen Weg zurück.
Ich tastete nach der ersten Sprosse der Leiter und machte mich an den Abstieg. Ein fauliger Geruch stieg mir in die Nase und wurde immer unerträglicher, je weiter ich hinabkletterte. Nach zwei bis drei Metern öffnete sich die senkrechte Röhre, in der ich mich befand, in ein größeres Gewölbe. Das Licht wurde angenehmer, etwas gelblicher. Noch zwei Meter, dann hatte ich den Boden erreicht.
Er war gemauert, aber ziemlich kalt und feucht. Ein schmaler Pfad aus uralten Ziegelsteinen führte mich zwischen stinkenden Sielen links und rechts hindurch, von denen auch das Flimmern ausging. Irgendwo hinter den Wänden hörte ich ein starkes Rauschen und hoffte inständig, dass ich mich nicht in einem Kanal befand, der gleich geflutet wurde.
„Atropa?“
Wieder keine Antwort.
Ich atmete durch den Ärmel meines Schlafanzughemds und ging weiter. Plötzlich drangen scharrende Geräusche an mein Ohr und ich glaubte Schatten zu sehen, die an den Wänden entlang huschten. Angst kroch mir den Nacken hoch. Atropa hatte gesagt, ich wäre hier sicher. Dann ein Quieken und ich beruhigte mich wieder. Natürlich, hier gab es Ratten. Wahrscheinlich massenhaft. Trotzdem lief ich schneller. Die Siele hörten auf. Ich folgte einer scharfen Biegung nach rechts. Hier gabelte sich die Röhre. Zum Glück wusste ich noch, wohin ich mich wenden sollte. Atropa hatte es mir erklärt. Links führte die Röhre weiter ins Dunkel, rechts jedoch öffnete sie sich nach einigen Metern.
Ich betrat eine geräumige, unterirdische Höhle, die einen natürlichen Ursprung zu haben schien. In der Mitte befand sich ein kreisrunder See, der still dalag und dessen klares Wasser an den Höhlenwänden in verschiedenen Blautönen reflektierte. Es sah magisch aus, völlig unwirklich. Und wunderschön. Ich schätzte dieses unterirdische Gewässer auf etwa 60 Meter Durchmesser. Es war genau so, wie Atropa es beschrieben hatte. Aber wo war sie?
Am anderen Ende des Sees nahm ich die Umrisse einer Schleuse war. Von dort drang ein stetiges Plätschern zu mir herüber, was auf eine Regulierung des Zuflusses schließen ließ. Neben der Schleuse machte ich ein kleines Betonhäuschen aus.
War sie dort? War sie die Schleusenwärterin? Arbeitete sie hier und hatte es mir nur nie verraten? Aber dann musste es noch einen anderen Zugang geben, nicht den, durch den ich gekommen war und der seit Jahrzehnten nicht mehr benutzt worden war.
„Atropa!“, rief ich jetzt lauter. Die Farbe des Wassers schien sich bei meinem Ruf augenblicklich zu verändern. Sie wechselte von tiefblau zu smaragdgrün.
War das eine Antwort? Wenn ja, verstand ich sie nicht. Vielleicht konnte sie mich in dem Haus nicht hören. Ich trat noch einige Schritte näher und befand mich nun auf einem Felsvorsprung. Rechts neben mir entdeckte ich einen Kahn mit einem Ruder, auf dem gerade mal eine Person Platz hatte. Ich zögerte. Davon, dass ich den See überqueren musste, hatte sie nichts gesagt. Sie wusste doch, dass ich Angst vor Wasser hatte. Vielleicht hatte sie es deshalb verschwiegen? Ich rief noch einmal, so laut ich konnte:
„ATROPA?!“
Nichts.
Was sollte ich tun? Ich setzte meinen Rucksack ab und schaute nach, was drin war. Meine schwarze Hose, ein Shirt, eine Strickjacke, Strümpfe und meine Chucks. Außerdem hatte ich meinen Pass und in der Tasche daneben fand ich sogar meine Kreditkarte. Das war sogar sehr gut. Sollte ich umkehren? Ein paar Minuten weiter war der Bahnhof Gesundbrunnen. Von hier mussten auch Nachtzüge losfahren. Irgendwohin. Vielleicht zu einem Flughafen. Und dann einfach weg. 250 Tage früher als geplant. Na und. Andererseits, was, wenn die Schatten mich fanden? Garantiert suchten sie mich. Ich sah zu dem Haus hinüber. Atropa hatte geschrieben, dass ich hier sicher vor ihnen war. Vielleicht sollte ich erst mal eine Weile hierbleiben und in dem Haus nachsehen, ob Atropa doch da war und schlief. Wenn nicht, würde ich mich dort eine Weile verstecken. Ich maß den See mit meinen Augen. Es waren nur sechzig Meter, ich brauchte nicht zu schwimmen, ich hatte ein Boot, und da, wo ich hergekommen war, lauerten schlimmere Gefahren als Wasser.
Vorsichtig
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