Himmelstiefe
Himmel? Ich versuchte mich ein wenig aufzurichten. Auf sehr irdische Weise taten mir dabei alle Knochen weh. Nichts passte zusammen. Ich zog meine Hände aus dem flaumigen Wolkenweiß. Sie waren menschlich rosig wie immer, nur eiskalt.
Langsam verstand ich, dass es kein Schnee und auch kein Wolkendampf war, auf dem ich lag. Ich befand mich in einer Landschaft, die komplett von einer Decke aus Blüten eingehüllt wurde. Winzige weiße Blütenblätter klebten an meinen Fingern. Unzählige weitere Blütenblätter rieselten wie Schnee aus den Bäumen. Trotzdem ging ein Zittern durch meinen Körper, als steckte ich in einer Schneewehe fest. Mein klitschnasser Schlafanzug klebte an mir. Tiefblaue Kälte kroch von den Beinen heran, obwohl sich die Luft tropisch warm anfühlte. Meine Füße brannten. Ich versuchte, sie zu bewegen und bemerkte, dass sie sich im eiskalten Wasser befanden. Sie waren nackt. Ich hatte meine Schuhe verloren. Nein, ich hatte ja gar keine Schuhe dabei gehabt. Die Erinnerung an die letzten Stunden kehrte zurück. Ich war aus einer Anstalt geflohen, beziehungsweise entführt worden und dann geflohen. Und nun lag ich am Rande eines Sees. Das Glitzern kam also nicht von den Blüten, sondern von der Oberfläche des Wassers, die sie bedeckten. War ich aus dem Wasser gekommen? Aber das war doch völlig unmöglich! Wahrscheinlich erlebte ich einen Realtraum, während ich angeschnallt im Krankenhaus lag, oder doch eine nahtodähnlichen Fantasie. Ich hatte nicht genug Kraft in den Beinen, um meine Füße aus dem Wasser zu ziehen. Ich sank zurück in das weiche Blütenmeer und schloss die Augen. Ich hatte überhaupt keine Kraft. Gut, jetzt war ich so weit. Ich wollte nicht mehr zurück in die Enge eines schwarzen Tunnels. Ich wollte einfach liegenbleiben. Mit geschlossenen Augen hörte ich wieder die süße leise Melodie. Sie war so schön, als hätte jedes herabfallende Blütenblatt einen anderen zarten Glockenton und zusammen ergaben sie bei der Berührung des Bodens einen wunderschönen Klang. Ich gab mich ganz hinein und rührte mich nicht mehr. Plötzlich schien sogar Gesang einzusetzen.
„Hallo?“ hörte ich. Dann nochmal:
„Hey!“
Ein seltsamer Liedanfang.
Jemand rüttelte unsensibel an meinen Schultern, völlig unpassend zur Situation. Ich spürte, wie die blaue Kälte, die gerade nach meinem Herz greifen wollte, zurück wich. Ich blinzelte in ein Gesicht. Die Krankenschwester? Nein. Das Gesicht war glatt und elfenbeinhell, mit blauen Augen darin und einem blassrosa Mund. Es war umrahmt von lockigen, schokobraunen Haaren, die über ein weißes Hemd fielen. Der Mund lächelte und die Augen schauten besorgt. Meine Lider waren so schwer.
„Nicht wieder einschlafen!“, befahl die Gestalt. Das musste ein Engel sein. Allerdings trug er kein Gewand, sondern das schlichte langärmelige Shirt ging nur knapp über den Bund einer weißen Kniehose. Gab es auch Engel in kurzen Hosen? Ich forschte nach Schuhen, konnte aber keine ausfindig machen, weil seine Füße bis zum Knöchel in den Blüten verschwanden. Jetzt zerrte der Engel an mir, zerrte mich ohne Erbarmen hoch.
„Los, komm, hilf mit. Sonst stirbst du! Los!“
Sonst stirbst du? Das hieß, ich war noch nicht tot. Und ich war irgendwo, wo man nicht tot sein sollte, auch wenn es hier Engel gab. Ich verstand rein gar nichts und beschloss, auf ihn zu hören. Oder besser, auf sie. Was Aussehen und Stimme anbelangte, war der Engel ein Mädchen. Sie war klein und zartgliedrig, aber schaffte es, mich hoch zu zerren und mit dem Oberkörper gegen einen Baum zu lehnen. Ich hustete und spuckte Wasser. Sie klopfte mir auf den Rücken. Ich lag jetzt in der prallen Sonne und spürte, wie ihre warmen Strahlen mit den Krallen der blauen Kälte in mir rangen.
„Wo bin ich?“, brachte ich hervor und hoffte, dass das Engel-Mädchen mein Flüstern überhaupt verstehen konnte.
„Du bist in Sicherheit, auch wenn ich mich frage, wie du das gemacht hast.“
„Was?“
„Na, überlebt … Los, versuch dich auf mich zu stützen, du musst raus aus dem nassen Zeug.“
Meine viel zu langsamen Gedanken kamen nicht hinterher. Es war an diesem Ort also doch komisch, nicht tot zu sein.
„Bist du ein Engel?“
„Ja.“ Sie strahlte, als wenn sie sich freute, dass ich sie richtig eingeschätzt hatte.
„Echt … ich wusste gar nicht, dass die auch Hosen …“
Sie lachte, ein hohes, helles, klares, aber dennoch ziemlich menschliches Lachen.
„Es ist garantiert
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