Himmlische Juwelen
ein
achtjähriger Junge und seine jüngere Schwester. Sie saßen beim Abendessen,
glücklich und zufrieden. Ab und zu sagte einer etwas, worauf der eine oder
andere lächelte, gestikulierte oder das Gesicht verzog. Der Junge aß seinen
Teller leer, und die Mutter reichte ihm ein weiteres Stück Kuchen, ziemlich
hell, mit etwas dunkleren Einsprengseln, der Jahreszeit nach vermutlich Äpfel
oder Birnen, vielleicht auch beides. Ein verlockender Anblick, der Caterina nun
doch Appetit machte. Aber solange drüben noch gegessen wurde, wollte sie kein
Licht machen, um nicht auch auf dem Präsentierteller zu sitzen. Plötzlich
langte der Junge mit seiner Gabel über den Tisch und spießte ein Stück vom
Kuchen [114] seiner Schwester auf. Er hielt es triumphierend hoch und ließ es dann
mit kleinen kreisenden Bewegungen auf seinen Mund zuschweben.
Caterina hörte nichts, sie sah nur, wie der Vater seine Gabel sinken
ließ und dem Sohn einen strafenden Blick zuwarf. Sofort hielt der Junge inne,
beugte sich vor und legte das Stück auf den Teller seiner Schwester zurück. Der
Vater sah ihn noch einmal scharf an. Der Junge senkte den Kopf, aß seinen
Kuchen auf, kletterte vom Stuhl und ging aus dem Zimmer.
Sollten sie erst einmal zu Ende essen; Caterina ging einstweilen mit
ihrem Glas zum Sofa zurück, um weiterzulesen.
Über Steffanis erstes Jahr am Münchner Hof gab es keine Aufzeichnungen,
weder in den Lohnlisten der Sänger noch in denen der Instrumentalisten.
Erstmals tauchte er in den umfangreichen Akten als Schüler des Kapellmeisters
Johann Kaspar Kerll auf, der ihm für eine beträchtliche, weit über das Übliche
hinausgehende Summe Orgelunterricht erteilte. 1671 wurden Steffani zusätzlich
»teglich anderthalb Maß Wein sambt einen par brot gnedigst verwilliget«.
Darüber hinaus wurde er zum »Hof und Cammer Musico« befördert.
»Oddio«, seufzte Caterina und legte das
Buch beiseite. Da stand es, schwarz auf weiß, und bestätigte ihren Verdacht: Es
stimmte, was sie zunächst kaum zu denken gewagt hatte. Sie nahm ihr Glas und
trank es aus; und ohne sich länger um die drei Leute am Esstisch gegenüber zu
scheren, ließ sie das Licht im Wohnzimmer brennen, ging in die Küche und füllte
ihr Glas erneut auf.
»Musico, musico«, sagte sie laut. Sie
dachte an eine Arie in einer hinreißend komischen Inszenierung von Orlando [115] Paladino, die sie im Frühjahr in Paris gesehen
hatte und in der man über diesen Ausdruck spottete. Lange Zeit nach der
Hochblüte hatte Haydn die Chiffre noch benutzt, um sich über sie lustig zu
machen. Sie kannte das Wort aus Partituren und Briefen: Barocksänger, die von
zeitgenössischen Autoren oder Hörern als musico bezeichnet wurden, waren nichts anderes als Kastraten.
»Oddio«, wiederholte sie, in Gedanken bei
dem Mann mit dem aufgedunsenen, bartlosen Gesicht und der stoischen, unsagbar
traurigen Miene.
[116] 12
Morgens um neun wachte sie auf. In der vergangenen Nacht
hatte sie nach der Entdeckung des musico nur noch ein
wenig Pasta heruntergebracht, die Weinflasche geleert und sich mit dem zweiten
Buch aus der Bibliothek ins Bett verzogen. Doch als sie glücklich unter der
Decke lag, war sie so müde oder so benebelt, dass sie über dem Buch einnickte;
einmal wachte sie kurz auf, klappte das Buch zu und legte es auf den Boden,
löschte das Licht und schlief weiter.
Als Caterina sich jetzt einen Espresso machte, fehlte von Familie
Bär gegenüber jede Spur; die Küche drüben aber war im Gegensatz zu ihrer
blitzblank geputzt. »Stürz dich in das pralle Leben, Caterina«, sagte sie
entschlossen, während der Kaffee in der Espressomaschine hochzusprudeln begann.
»Oder such dir einen Job mit Zukunft«, ergänzte ihr vernünftigeres
Ich.
Ob alle arbeitslosen Musikwissenschaftler so endeten? Zwischen
Ikea-Teilen in einer möblierten Wohnung mit Blick auf Nachbarn, die einen an
das wirkliche Leben erinnerten? Um selbst etwas Sinnvolles zu tun, erledigte
sie den Abwasch und ging zum Container für Glas und Plastik, um die Weinflasche
zu entsorgen – die nicht mal mehr halb voll gewesen war, wie sie sich
weismachte. Container. Das war immerhin eine positive Veränderung. Aber der
Gedanke deprimierte sie gleich wieder – nicht, dass Venedig die [117] Mülltrennung
eingeführt hatte, sondern dass der Fortschritt sich auf derlei beschränkte.
Keine neuen Ideen, Montag, Mittwoch und Freitag Papier, und Dienstag,
Donnerstag und Samstag Kunststoff. Am Sonntag ruhten Gott
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