Himmlische Juwelen
gestorben, sie hatten jedoch alle drei ihre Eltern überlebt, und niemand
in dieser Generation war kinderlos geblieben. Zwei ihrer Schwestern hatten
Kinder, die sie abgöttisch liebten. Ihr selbst blieb auch noch Zeit. Schon
meldete sich die Zynikerin in ihr zu Wort: In zehn Jahren waren [120] womöglich
fünfzig- oder sechzigjährige Mütter an der Tagesordnung – also nur keine Eile!
Wie aber war jemandem zumute, der ohne Nachkommen blieb, und das
nicht aus freien Stücken? Konnte das einem Mann ebenso sehr zu schaffen machen,
wie es Frauen quälte?
Das Geschlechtsleben der Kastraten hatte sie nie sonderlich
interessiert, den Film über Farinelli hatte sie nicht gesehen. Vor Jahren hatte
sie allerdings irgendwo gelesen, dass man Zehntausende Knaben verstümmelt
hatte, in der Hoffnung auf ein Gesangswunder. Der voyeuristische Roman im
Bücherregal der Stiftung konnte von ihr aus bis zum Jüngsten Tag dort liegen
bleiben. Sie hatte nie die Nase in das Privatleben der Kastraten gesteckt. Doch
nun fragte sie sich, wie einsam sie sich fühlen mussten und wie es war, ohne
Nachkommen zu bleiben, niemandem etwas weitergeben zu können. Sprach daher so
große Trauer aus Steffanis Blick?
Sie band das Päckchen kurzerhand mit der alten Schnur zusammen, trug
es zum Tresor, legte es auf der hinteren Truhe ab und entnahm der vorderen ein
zweites. Zurück am Tisch band sie es auf und begann von vorne. Es ging im
gleichen Ton weiter: In einem Schreiben von 1722 an »Monsignore di Spiga« riet
man diesem, sein Gesuch direkt an den Sekretär für Bestallungen und Benefizien
des Erzbischofs von Wien zu richten. Sie suchte nach der Kopie von Steffanis
Anschreiben, da es damals üblich war, Abschriften der eigenen Briefe mit den
Antworten aufzuheben. Stattdessen fand sie noch ein weiteres dringendes Gesuch
um Unterstützung bei einer Bewerbung, diesmal aus dem Jahr 1711, adressiert an
Steffani als »Thronassistent Seiner Heiligkeit«. [121] Er war damals wieder in
Hannover, erinnerte sie sich, immer noch damit beschäftigt, Protestanten in
Norddeutschland zu missionieren.
Als Nächstes kam eine undatierte Liste mit Titeln und kirchlichen
Rangbezeichnungen, in der nach hinten geneigten Schrift, aber auf Deutsch. Sie
hatte vergessen, in der Marciana nach einem Original für einen Schriftvergleich
zu suchen. Immerhin ähnelte die Schrift der eines abgebildeten Briefes in einem
der entliehenen Bücher.
Unruhig geworden, ging Caterina zum Tresor, um sich noch einmal das
erste Päckchen vorzunehmen. Sie band es auf, holte noch einmal die Arie hervor
und legte sie neben die Titelliste. Beide Schriften hatten ungewöhnliche d und
e, die sich fast nach links überschlugen, als habe der Schreiber versucht,
einen Kreis zu zeichnen, es aber schon nach einem Viertel der Strecke
aufgegeben. Sie konnte nicht abschätzen, ob das schon als Beweis dafür reichte,
dass beides von Steffanis Hand stammte, beschloss aber, davon einmal auszugehen
und zu sehen, wie weit sie mit dieser Hypothese kam.
Sie kehrte zu den säuberlich untereinander aufgelisteten Titeln und
Ämtern zurück: Geheimer Rat und Präsident des Geistlichen Rates; kurpfälzischer
geistlicher Ratspräsident; Monsignore di Spiga; Apostolischer Protonotar;
Rektor der Universität zu Heidelberg; Propst von Selz; Gesandter der Pfalz in
Rom; Apostolischer Vikar von Norddeutschland; Thronassistent Seiner Heiligkeit;
Interimistischer Weihbischof von Münster; Mitglied und Präsident der Academy of
Vocal Music.
Darunter, offenbar von derselben Hand, reihte sich eine [122] Zeile
lang ein Fragezeichen an das andere. Ihr lief ein Schauder über den Rücken.
Caterina war alles andere als eine eifrige Bibelleserin, aber sie hatte noch
den Spruch ihrer frommen Mutter im Ohr: »Und wenn ich weissagen könnte und
wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, also dass
ich Berge versetzte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts.« Propst von
Selz. Was war das schon? Apostolischer Vikar des Nordens? Was bedeutete das
einem Mann, den man seiner Zeugungskraft beraubt hatte?
Ein leises Klopfen an der Tür riss sie aus ihren Gedanken. Sie stand
auf und öffnete. Es war Dottor Moretti, heute in einem dunkelblauen Anzug aus
ebenso teurem Tuch wie der dunkelgraue, den er am Vortag getragen hatte. Die
Krawatte war nicht ganz so zurückhaltend: Ja, die burgunderroten Streifen
wirkten an einem Mann von Dottor Morettis Solidität geradezu, als hätte er sich
eine rote
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