Himmlische Juwelen
und die Müllmänner.
Es war zum Verzweifeln, ebenso wie die von manchen ihrer Freunde geäußerte
Vermutung, dass der gesamte Abfall am Ende doch auf einem Haufen landete und
der ganze Schwindel allein dazu diente, die Gebühren in die Höhe zu treiben.
Sie ließ dieses Thema sein und ging unter die Dusche.
Eine halbe Stunde später brach sie auf, machte halt für eine Brioche
und noch einen Espresso und nahm dann im Sonnenschein den Weg über die Riva dei
Sette Martiri, um die Schönheit der Stadt zu genießen. Der goldene Engel auf
dem Glockenturm von San Giorgio drehte sich im Wind wie zum Tanz. Dieser
Anblick hob ihre Stimmung so sehr, dass sie ihm am liebsten zugewinkt und ihn
gefragt hätte, wie es denn da oben so sei.
Ihr fiel ein, was der Rumäne sie einmal in einem seiner lichten
Momente gefragt hatte: Wie kleideten sich die Engel an und aus? Er meine das
ernst, und sie sei die Einzige, die er das fragen könne. »Ich verstehe schon,
wie beim Ausziehen das Kleid über die Flügel runterrutscht – kein Problem: das
Gewand gleitet in der richtigen Richtung über die Federn –, aber würde es nicht
die Federn gegen den Strich bürsten, wenn sie beim Anziehen das Gewand
hochziehen?« Offenbar beschäftigte es ihn wirklich. »Oder haben sie Knöpfe?«,
hatte er gefragt.
Vor ihrem inneren Auge war Fra Angelicos Verkündigung erschienen, mit dem Engel im Anflug, der vor der verwirrten Jungfrau anbetend
niederkniet, die buntgestreiften [118] Schwingen noch aufgestellt: Wie hätte Maria
da nicht durcheinander sein sollen? Ganz unrecht hatte der Rumäne nicht,
gestand sie sich ein: Ein achtsamer Engel konnte die Flügel vielleicht
einklappen, um sein Gewand, seitlich aufgeknöpft, anzulegen, aber dennoch
würden sich viele Federn verhaken. Beim Ausziehen hingegen würde der Stoff
reibungslos über die Federn streifen. Vielleicht mussten Engel sich ja nie umziehen?
Dann hatte sie eine Erleuchtung, und sie grinste nur:
»Klettverschluss.«
»Ah«, kam es von seinen Lippen, und er küsste ihr die Hand. »Ihr im
Westen kennt euch aus.«
Unmittelbar vor der Chiesa della Pietà bog sie ein und gelangte dann
an San Giorgio dei Greci vorbei zur Stiftung. Sie schloss auf, warf einen Blick
in Roseannas Büro, aber die war nicht gekommen. Sie öffnete die Tür zum
Treppenhaus, ging ins Büro des Direktors hoch und stellte ihre Tasche ab. Dann
schloss sie den Tresor auf, nahm das Päckchen vom Vortag heraus und setzte
sich. Sie schlug die Kladde auf und flüsterte noch einmal »musico« vor sich hin. Wo sie tags zuvor aufgehört hatte, las sie weiter.
Ein herzlicher Brief von einem Priester in Padua, offenbar einem
Freund aus Kindertagen, der seinem »lieben Freund und Bruder in Christo,
Agostino« berichtete, alle in seiner Familie seien wohlauf, und er vertraue auf
Gott, dass es so bleiben möge. Gottes Segen erflehe er auch für die Familie
seines Freundes Agostino. Das war alles, und sie notierte lediglich das Datum
des Briefes.
Das nächste Dokument war vom Oktober 1723: eine Liste der Leuchter,
Bücher, Reliquien und Gemälde, die ein [119] gewisser Johann Grabel der Kirche
Sankt Andreas in Düsseldorf vermacht hatte. Die Leuchter waren aus Silber und
Messing, die Bücher ausschließlich religiösen Inhalts, die Reliquien eine
Sammlung vertrockneter Gliedmaßen, darunter die große Zehe des heiligen
Hieronymus. »Die linke oder die rechte?«, fragte Caterina laut. Bei den
Gemälden handelte es sich um Heiligen- und Märtyrerporträts. Unter der Liste
stand in jener nach hinten geneigten Schrift auf Italienisch: »Den Jesuiten. So
ein Narr.« Sie notierte das und legte das Blatt zur Seite.
Zwei Stunden lang arbeitete sie sich durch ein Sammelsurium von
Briefen aus Steffanis späteren Lebensjahren vor – alle an ihn gerichtet:
diverse Hilfegesuche, Lobreden, kirchliche Neuigkeiten und etliche Rechnungen
für Wein, Bücher und Papier. Die Schreiben kamen aus ganz Europa, aber
seltsamerweise war in keinem einzigen mehr von Musik oder Steffanis Wirken als
Komponist die Rede. Nichts anderes blickte ihr aus dieser Hinterlassenschaft
entgegen als ein Kirchenmann. Die Arie und jener erste Brief blieben in diesem
Päckchen der einzige Hinweis auf ein Leben jenseits der Kirche.
Sie schob die Papiere beiseite, stützte ihr Kinn in die Hände und
dachte an ihre Familie. In einem hatten sie Glück gehabt: Niemand hatte den Tod
seines eigenen Kindes erleben müssen. Eine Tante und zwei Onkel waren relativ
jung
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