Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Himmlische Juwelen

Himmlische Juwelen

Titel: Himmlische Juwelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
Vom Netzwerk:
Cristinas Adresse an der
Uni. Schließlich war ihre Frage beruflicher Natur, auch checkte Cristina diese
Adresse bestimmt regelmäßiger als ihre privaten Mails.
    » Ciao, Tina-Lina«, begann sie.
    »Ich hoffe, Du bist wie immer im Stress und glücklich. Momentan
untersuche ich in Venedig den Nachlass dieses Barockkomponisten, der in
Deutschland wirkte und starb. Ich hätte dazu gern eine Hintergrundinformation.
Er war Abbé. Was ist ein Abbé? Muss das ein Priester sein, oder kann [144]  er
sonst was sein und läuft nur unter Abbé (ein kleiner Betrug, der natürlich
keineswegs im Sinne Deines Arbeitgebers ist)?« Caterina konnte solche kleinen
Sticheleien nicht lassen. Seit Cristina vor zwanzig Jahren Nonne geworden war,
hatte Caterina sie wegen dieser Entscheidung aufgezogen.
    »Außerdem vermute ich, der Mann könnte Kastrat gewesen sein. Wenn
ich das richtig behalten habe, konnten Kastraten nicht Priester werden. Ließe
sich das umgehen, indem man ihn zum Abbé ernennt? (Nicht dass Dein Arbeitgeber
das tun würde…) Könntest Du mir darüber etwas schneller als in Deinem üblichen
Schneckentempo Aufklärung verschaffen?
    Mamma und papà sind gesund und munter wie immer, Clara ebenso. Cinzia geht es gut, ihren
Kindern auch. Claudia sieht umwerfend aus und scheint jetzt mit Giorgio besser
zurechtzukommen, aber wer weiß schon, wie lange es diesmal halten wird? Warum
hat sie nicht dieselben Glücksgene, die wir anderen offenbar geerbt haben? Ich
wünschte… Du weißt schon, was ich meine. Mir geht es gut, die Arbeit scheint
mir vielversprechend und…« Hier überlegte sie, ob sie Avvocato Moretti erwähnen
sollte, aber ihr gesunder Menschenverstand siegte. Sie waren zusammen essen
gegangen, Herrgott noch mal: sonst nichts. »…wird mich eine ganze Weile hier
festhalten, und bis dahin könnte es mit einem der anderen Jobs konkret werden.
Ich hoffe, Du bist glücklich und hast zu tun und denkst gründlich über den Total
Falschen Weg nach, für den Du Dich entschieden hast. Alles Liebe, Cati.«
    Cristina, die einzige unter Caterinas Schwestern, die ebenfalls
einen Beruf ergriffen hatte, war schon immer ihre [145]  Lieblingsschwester
gewesen. Das erklärte Caterinas Bestürzung, ja ihr Entsetzen über Cristinas
Entschluss, ins Kloster zu gehen, aber auch den flapsigen Ton, in dem sie mit
der Professoressa Dottoressa Suora zu kommunizieren pflegte.
    Sie wollte den Laptop gerade in den Ruhezustand versetzen, als ihr
einfiel, dass Cristina ja keinerlei Informationen hatte. Also schickte sie eine
zweite Mail hinterher: »Seine Lebensdaten sind 1654–1728, falls das hilft.«
    Sie klappte den Laptop zu und schob ihn außer Reichweite. Dafür zog
sie die Kladde näher heran und machte sich erneut an die Arbeit.
    Anderthalb Stunden lang notierte sie diverse erbetene, gewährte und
verweigerte kirchliche Wohltaten, dann stand sie auf und ging zu den beiden
Fenstern. Sie öffnete das eine und packte das Gitter mit beiden Händen; sie
rüttelte daran, und als es sich nicht rührte, versuchte sie es am zweiten. Ob
Steffani ähnlich empfunden hatte, fragte sie sich, gefangen in seinem Körper
wie in einer Falle, aus der er sich nie würde befreien können. Aber eine
Gefängnisstrafe war normalerweise befristet, und der Gefangene hatte, wenn das
auch das Letzte war, das ihm blieb, wenigstens die Hoffnung, eines Tages wieder
frei zu sein.
    Diese Hoffnung könnte Cristina auch haben, aber sie selbst sah das
ganz anders. Ja, die Einschränkung ihrer Freiheit war ihr willkommen – das
helfe ihr, sagte sie, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Ob Steffani am
Ende womöglich genauso gedacht hatte? Aber Cristina hatte, wie man es auch
drehte und wendete, sich selbst für dieses Leben entschieden. Gewiss, damals
war sie neunzehn, aber niemand war ihrer Entscheidung zuvorgekommen, niemand
hatte sie [146]  ihr aufgezwungen. Ganz im Gegenteil – und wenn sie wollte, konnte
sie jederzeit wieder gehen. Und wenn sie sich gegen das Klosterleben entschied,
würde sie ihren Doktortitel und ihre Stelle behalten.
    Aber Steffani? Der konnte seinem Schicksal nicht mehr entrinnen, und
er konnte auch die Kirche nicht verlassen. Derselben Kirche, die eine Mitschuld
trug an dem, was man aus ihm gemacht hatte, verdankte er seine Bestimmung,
seine Position und seine Bedeutung. Zweifellos hätte ihm sein Genie auch ohne
die Kirche zu Aufträgen und Ruhm als Komponist verholfen. Aber, dachte
Caterina, hätte es ihm auch das hohe Ansehen

Weitere Kostenlose Bücher