Himmlische Juwelen
darin ausgebildet, zwischen den Zeilen zu lesen. Es
ging ihr wie einem Tierarzt, der sofort merkt, dass der Hund seines Freundes
die Räude hat, oder wie einem Gesangslehrer, wenn ein Vibrato um eine
Winzigkeit zu stark ist. Die Mail ihrer Schwester beunruhigte sie. Obwohl sie
anfangs Genugtuung empfunden hatte bei der Lektüre, machte sie sich Sorgen
wegen ihrer Schwester. » ET , phone home«, flüsterte sie.
Sie konzentrierte sich wieder auf die Fakten. Ihre wilden
Spekulationen erwiesen sich mithin als durchaus fundiert. Sie dachte an das
Porträt von Steffani als Sechzigjährigem, die langen Finger, das bartlose,
aufgedunsene Gesicht, dem es so gänzlich an den Kanten und Furchen fehlte, die
einen Mann attraktiv machten.
Sie stellte den Computer aus, nahm ihre Tasche und ging nach unten,
jedoch nicht ohne vorher zu prüfen, ob Tresor und Bürotür fest verriegelt
waren. Roseanna war nicht mehr da. Während sie die Haustür abschloss, bemerkte
sie daran ein kleines Schild mit dem Hinweis, die Bibliothek bleibe bis Ende
des Monats geschlossen. Immerhin war es warm draußen, die Leute, die den
Leseraum in der kalten Jahreszeit als warmes Plätzchen nutzten, würden nicht zu
leiden haben. Doch wo sie wohl den ganzen Tag hinbrachten?
In diese und andere Gedanken vertieft, ging Caterina nach Hause;
nicht zur Wohnung, in der sie zurzeit lebte, sondern zu ihren Eltern in der
Nähe von La Madonna dell’Orto, dem Viertel, das immer ihre Heimat bleiben
würde.
Sie hätte zur Anlegestelle Celestia zurückgehen und das Vaporetto
nehmen können, aber die Gegend gefiel ihr nicht, so gut beleuchtet sie auch
sein mochte; lieber ging sie über [153] den Campo Santa Maria Formosa zur Strada
Nuova und von dort nach Hause, wie sie es zu Schulzeiten immer getan hatte.
In Gedanken bei Steffani, schenkte sie dem Mann, der neben ihr
auftauchte, zunächst keine Beachtung. Erst als er auf gleicher Höhe mit ihr
blieb, warf sie einen kurzen Blick hinüber, aber da sie ihn nicht kannte, ging
sie einfach etwas langsamer, um ihn an sich vorbeizulassen. Der Mann aber
verlangsamte ebenfalls sein Tempo und hielt mit ihr Schritt. Sie kamen auf den
Campo, wo es schon ziemlich dunkel war. Die Pflastersteine waren mit einem
dünnen Feuchtigkeitsfilm überzogen, in dem sich das Lampenlicht spiegelte.
Einige Meter hinter der Brücke, wo Licht auch aus den Schaufenstern zu ihrer
Rechten fiel, blieb sie stehen. Sie tat gar nicht erst so, als wolle sie etwas
aus ihrer Tasche nehmen: Sie blieb einfach stehen und wartete, ob der Mann sich
verziehen würde. Das tat er nicht.
Der Gemüsestand war schon abgebaut, auf dem Campo waren noch
vereinzelte Passanten unterwegs, drei oder vier von ihnen in Rufweite, dachte
sie unwillkürlich.
»Was wollen Sie von mir?«, fragte sie und überrumpelte damit mehr
sich selbst als diesen Mann.
Als er sich ihr jetzt zuwandte, packte sie eine tiefe Abneigung,
irrational, aber nicht zu unterdrücken. Das ist ein böser Mann, sagte ihr
Instinkt; so dazustehen und sie schweigend anzustarren, das war böse. Sie hatte
nicht die geringste Angst – sie standen mitten auf einem Campo, und es waren
Leute in der Nähe. Aber sie empfand Unbehagen, und je länger er schwieg, desto
unbehaglicher wurde ihr. Der Mann sah absolut durchschnittlich aus: etwa in
ihrem Alter, kurzes Haar, kein Bart, normale Nase, helle Augen, unauffällig.
[154] »Was wollen Sie von mir?«, wiederholte sie, aber er schwieg
beharrlich. Stand da und sah sie an, musterte ihr Gesicht, ihre Schultern, den
ganzen Körper, dann wieder ihr Gesicht, als müsse er sich alles genau
einprägen.
Sie wollte nur noch weglaufen oder ihm einen Stoß versetzen und dann
weglaufen, unterdrückte jedoch diesen Impuls und blieb regungslos stehen. Eine
volle Minute verging. Irgendwo rechts von ihr begann eine Kirchenglocke halb
neun zu schlagen: Sie war spät dran fürs Abendessen.
Sie nahm die Brücke auf der anderen Seite des Campo ins Visier und
ging los. Sie sah sich nicht um, horchte aber auf Schritte. In ihrem Kopf
dröhnte es. Auch konnte sie sich nicht erinnern, ob seine Schritte vorhin zu
hören gewesen waren. Am Fuß der Brücke war das Verlangen, sich umzudrehen und
nachzusehen, ob er hinter ihr war, schier überwältigend geworden, aber sie
widerstand dem Drang, überquerte die Brücke und bog dann in eine der engsten calli der Stadt ein. Sie konnte nur beten, dass ihr vom
anderen Ende her jemand entgegenkam, doch da war niemand. Inzwischen bebte sie
vor
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