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Himmlische Juwelen

Himmlische Juwelen

Titel: Himmlische Juwelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
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Botschaftsposten gehievt. Und die Erde dreht sich weiter.
    Sie verglich die Daten, und natürlich war die Gräfin zur Zeit von
Königsmarcks Verschwinden in Hannover gewesen. Zahlreiche Zeitgenossen
bezeugten, dass Königsmarck zu ihren Liebhabern zählte und sie extrem
eifersüchtig auf den Jüngeren war. Caterina fand auch einen Artikel in einer
Gazette von 1836 über die sogenannten Memoiren der Gräfin, worin es hieß, sie
habe behauptet, Zeugin des Mordes gewesen zu sein. Häufig wurde sie als
diejenige genannt, die Ernst August von der Affäre zwischen Königsmarck und
Sophie Dorothea unterrichtet habe, auch wenn Caterina allmählich den Eindruck
gewann, dass die wenigen, die von dieser Affäre nichts gewusst hatten,
taubstumm oder blind oder gelähmt sein mussten.
    Wenn sie sich nur an die Regeln gehalten hätte, dachte Caterina.
Wenn die törichte, liebestrunkene Sophie Dorothea sich nur ein wenig diskreter
verhalten hätte, wäre alles ohne Aufhebens über die Bühne gegangen: Georg hätte
seine [198]  Mätressen und sie ihren Geliebten gehabt, und sie wäre Königin von
England geworden, statt als Gefangene in einem abgeschiedenen Schloss zu
versauern, abgeschnitten von ihren Kindern und jeglichem Besuch außer dem ihrer
Mutter, die sie nicht sonderlich mochte.
    Caterina hatte den ganzen Tag gelesen und war müde, sagte sich aber,
da sie am nächsten Morgen nicht um Punkt neun im Büro erscheinen müsse, könne
sie jetzt so lange weitermachen, wie es ihr beliebte. Im Übrigen faszinierte es
sie, wie bekannt ihr diese Leute und ihr Verhalten vorkamen: Anders gekleidet
und frisiert und sprachlich auf den neuesten Stand gebracht, würden sie sich
heute in Rom oder Mailand wie zu Hause fühlen und natürlich auch in London, wo
etliche entfernte Verwandte noch immer in Amt und Würden waren.
    Ehebruch im Hause Hannover war nichts Neues für Caterina und jeden
anderen Europäer, der wusste, wo die Sachsen-Coburg-Gothas und die Windsors
herkamen. Allerdings, dachte sie, haben sich ihre Verwandten auf dem Kontinent
auch nicht durch besondere Enthaltsamkeit ausgezeichnet.
    Bis jetzt hatte sie zum Recherchieren in wissenschaftlichen
Zeitschriften ausschließlich die JSTOR -Website
benutzt, nun aber, übersättigt von so viel Ernsthaftigkeit, setzte sie ihre
Suche mit Google fort. Es störte sie nicht, dass am Rand des Bildschirms eine
junge Thai-Frau lauerte, die einen fürsorglichen Ehemann suchte – »Alter und
Aussehen gleichgültig« –, und auch die Werbung für Autos, Restaurants,
Hypotheken und Vitamine nahm sie kaum noch wahr. Auf der neunten Seite der
unter Steffanis Namen angezeigten Fundstellen stieß sie auf die Katholische Enzyklopädie und [199]  beschloss, dort einmal
nachzusehen, so wie ein Pokerspieler einen Blick in die Karten seiner
Mitspieler zu erhaschen sucht.
    Steffanis kirchliche Aktivitäten wurden erst in der Mitte des
Artikels erwähnt: Die Kirche habe ihn zum Apostolischen Protonotar – was immer
das sein mochte – für Norddeutschland ernannt, »in Anerkennung seiner
Bemühungen um die Sache der Katholiken in Hannover«. »Bemühungen?« Aus den
unscharfen Formulierungen des Artikels musste man schließen, dass Steffani
diesen Posten 1680 erhalten hatte, als er sechsundzwanzig Jahre alt war.
    Um dem auf den Grund zu gehen, suchte sie nach weiteren Quellen und
fand eine, wonach seine Ernennung zum Apostolischen Protonotar erst 1695
erfolgte. Ein Jahr nach der Ermordung Königsmarcks. »Bemühungen«?
    Sie vernahm ein Geräusch, ein dumpfes Summen, und unwillkürlich fiel
ihr der Mann ein, der sie auf der Straße verfolgt und der dann an der
Anlegestelle gesessen hatte. In Panik sprang sie auf und lief zur Tür, aber
dort war das Geräusch nicht mehr so laut. Als sie erkannte, dass es das telefonino in ihrer Tasche war, bekam sie weiche Knie und
einen heißen Kopf. Sie ging zurück, öffnete die Tasche und nahm das Handy
heraus.
    »Pronto?«, sagte sie mit mühsam um
Neutralität bemühter Stimme.
    »Caterina?«, fragte eine Männerstimme.
    Sie nahm das Handy ans andere Ohr und wischte die schweißfeuchte
Hand an ihrem Pullover ab. »Sì.« Ganz die
vielbeschäftigte Frau, die von einem Anruf aus ihren Aktivitäten herausgerissen
worden war; ganz die Frau, die – sie [200]  sah auf die Uhr – abends um zwanzig vor
zehn mit Sicherheit Besseres zu tun hatte.
    » Ciao. Ich bin’s, Andrea. Ich störe doch
nicht?«
    Sie zog einen Stuhl heran, setzte sich und nahm das Handy wieder

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