Himmlische Juwelen
Unterwürfigkeit.
»Soll das heißen, er ist dir sympathisch geworden? Steffani?«
Was für seltsame Fragen Roseanna stellte: Ob sympathisch oder nicht,
darüber hatte Caterina noch nie nachgedacht. Sein Leben gab ihr Rätsel auf,
aber sie hatte sich eingebildet, sie interessiere sich nur deshalb dafür, weil
es ihr für ihre Arbeit diente.
Sie machte eine abwägende Handbewegung. »Ich weiß nicht, ob ich ihn
mag.«
[212] Ihre Antwort überraschte sie selbst. Sie mochte seinen Fleiß,
seinen Einsatz, aber das waren Eigenschaften, kein ganzer Charakter. »Ich werde
weitersuchen müssen«, hörte sie sich sagen.
»Oben?«, fragte Roseanna und wies mit dem Kinn Richtung Decke.
»Nein. In der Marciana. Da liegt noch einiges für mich bereit.«
»Viel Glück.«
Caterina dankte lächelnd und machte sich gutgelaunt auf den Weg zur
Bibliothek.
Ihr Lesetisch sah noch genauso aus wie tags zuvor. Unterwegs
hatte sie, wenn auch mit schlechtem Gewissen, ihren Vorrat an Schokolade und
Energieriegeln aufgefüllt. Bevor sie sich an die Arbeit machte, ging sie ans
Fenster und rekapitulierte, was sie in den letzten Tagen in der Stiftung und in
der Bibliothek gelesen hatte. Neben den Antworten, die sie gefunden hatte,
taten sich neue Fragen auf.
Sie legte die Kladde bereit und nahm sich das nächste Buch vor.
Hierin wurden das Leben Steffanis und seine Musik getrennt voneinander
behandelt; angefangen hatte sie damit vor zwei Tagen, ehe sie den Verlockungen
der »Affäre« erlegen war. Doch damit genug. Zurück an die Arbeit.
Sie ging die inzwischen vertrauten Einzelheiten aus seiner Kindheit
und Jugend durch, bis er 1688 als Hofkomponist nach Hannover ging und sich dann
wenig später im Auftrag der Kongregation um Norddeutschland bemühte. Wie immer,
wenn sie sich sein Leben vor Augen führte, kam [213] ihr diese Kombination von
Musik und Missionieren merkwürdig vor.
Auch Vivaldi war Priester und Musiker zugleich, stellte aber sein
Kirchenamt in den Dienst seiner musikalischen Karriere. Er war von ganzem
Herzen Musiker und komponierte bis zum letzten Atemzug, den er vermutlich in
den Armen seiner Geliebten Anna Girò tat. Caterina wusste über sein Leben
herzlich wenig, aber so viel wusste sie doch, dass Kirchliches, abgesehen von
Kirchenmusik, keine Rolle darin gespielt und er nie nach irgendeinem höheren Kirchenamt
getrachtet hatte.
Bei Steffani sah das anders aus, er wurde mit Pfründen und Titeln
förmlich überschüttet. Seine Sendung, für die er das Komponieren offenbar
aufgegeben hatte, war die Rückführung Norddeutschlands in den Schoß der
Heiligen Katholischen Kirche, und damit war er kläglich gescheitert. Zwei
historische Werke über die Kirche Norddeutschlands schilderten in Latein und
Deutsch seine Bemühungen. Man pries seinen Einsatz und Eifer und zählte auf,
was er alles in Hannover und Düsseldorf erreicht hatte. Lediglich fünf Seiten
widmete der deutsche Text Steffanis Wirken als Musiker.
Als sie damit fertig war, trieb der Hunger sie aus der Bibliothek in
die nächste Bar; sie stärkte sich mit zwei Sandwichs und einem Glas Wasser und
betrat dann wieder die Bibliothek, ohne dass jemand nach ihrem Ausweis fragte.
Als Nächstes las sie eine 1905 erschienene Ausgabe der Korrespondenz
zwischen Sophie Charlotte und Steffani in französischer Sprache, die sie beide
bestens beherrschten. In einem seiner Briefe klang er sehr deprimiert. »Der
Weltenlauf bereitet mir bitteren Kummer; mit Schmerzen sehe ich, [214] wie
Menschen, die ich zutiefst verehre, sich ins Verderben stürzen.« Sein Leben sei
»wahrhaft eine Last«, er leide an grenzenloser Hypochondrie. Sein einziger Freund
und Beistand sei sein Cembalo. Caterina hatte den Eindruck, dass er diese
Einsicht durch einen Scherz zu überspielen versuchte, aber sie fand das nicht
überzeugend. Überzeugend war die Unbekümmertheit, mit der er die Adressatin
ansprach; Caterina hoffte, die Königin habe dies mit Rücksicht auf seine
musikalischen Talente und nicht nur wegen seiner Stellung in der Kirche gnädig
aufgenommen. Oder durfte er sich ihr gegenüber solche Freiheiten herausnehmen,
weil er Kastrat war?
Die Briefe vermittelten den Eindruck eines Mannes, der zwar die
gesellschaftliche Leiter hinaufgestiegen war, doch, ganz gleich, wie hoch er
stieg, sich stets seiner wackligen Stellung bewusst blieb: War der Dank, mit
dem er Sophie Charlotte für den kleinsten Gefallen überschüttete, nicht
überschwenglich? Wirkten die Schmeicheleien nicht
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