Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)
– er ist ein aufgeweckter, fröhlicher kleiner Junge, und wenn das stimmt, was ich vermute, habe ich ihm den Vater gestohlen.
Ich gab ihm eine Trüffel aus Milchschokolade. »Die Sorte schmeckt dir bestimmt am besten«, sagte ich.
Ich erwähnte nicht, dass er garantiert meine Erdbeer-Pfeffer-Taler noch lieber probieren würde. Ich habe weder die Zeit noch die Zutaten, um für jeden eine Spezialpraline zu machen. Aber kleine Jungen mögen Milchschokolade. Pilou aß sie mit genüsslichem Schmatzen, während Rosette ihn interessiert musterte.
»Hmm, super«, rief er. »Hast du die echt selbst gemacht?«
»Das ist mein Beruf.« Ich lächelte ihn an. »Ist deine Mutter zu Hause?«
»Keine Ahnung«, antwortete er. »Ich glaube, sie ist zum Pfarrer gegangen.« Pilou grinste, weil ich so verdutzt schaute. »Sie bringt ihm pain au chocolat.«
»Pain au chocolat?«
Ich weiß, dass Reynaud und Joséphine ihre Differenzen mehr oder weniger beigelegt haben, aber dass meine alte Freundin jetzt Reynaud das Frühstück vorbeibringt, erstaunt mich doch – genauso wie der Gedanke, dass er sie darum bitten könnte. Caro hätte so etwas vielleicht gemacht. Vor dem Brand in der Schule natürlich.
Plötzlich fiel mir auf, dass ich Reynaud seit Sonntagabend nicht mehr gesehen hatte. Letzte Woche ist er jeden Tag vorbeigekommen und hat uns Brot vom Bäcker gebracht. In den letzten drei Tagen hat der Regen ihn vermutlich von seinem Morgenspaziergang abgehalten. Ich dachte daran, was ich beim Pralinenmachen gesehen hatte, das Bild von Reynaud, allein unterwegs –
»Geht es ihm gut?«, fragte ich Pilou.
»Darf ich nicht sagen.«
»Was darfst du nicht sagen?«
Pilou zuckte die Achseln. »Ich glaube, er ist in eine Schlägerei geraten. Mit ein paar Typen aus Les Marauds. Du’a meint, da gibt es böse Leute, die ihm die Schuld an dem Feuer geben. Deshalb bleibt er jetzt zu Hause. Bis sich die Lage wieder beruhigt hat.«
Das erklärt alles. »Verstehe. Vielleicht bringe ich ihm auch ein paar Pralinen.«
Es dauerte den ganzen Nachmittag, bis ich alle meine Versprechen eingelöst hatte. Eine Schachtel Trüffel für Narcisse, der uns so großzügig mit Obst und Gemüse versorgt. Eine für Luc, der uns sein Haus überlassen hat und ohne den wir vermutlich nie hergekommen wären. Eine für Guillaume, mit der strikten Anweisung, die Pralinen nicht an seinen Hund zu verfüttern. Mit jedem Besuch ziehen sich die Zuckertentakel enger um uns beide, wickeln uns ein und machen es schwerer wegzugehen.
Rosette sagte in ihrer Zeichensprache: Mir gefällt’s hier.
Klar gefällt es ihr hier. Es ist ja so behaglich. Ganz anders als Paris mit seinen tristen Vorstädten und den gesichtslosen Menschenmassen.
Können wir hierbleiben? Kann Roux auch herkommen?
Ach, Rosette. Was soll ich machen?
Als die Kirchturmuhr vier schlug, kamen wir zum Café des Marauds. Joséphine stand hinter dem Tresen und hieß uns mit einer heißen Schokolade willkommen. Sie freute sich, dass wir kamen, jedenfalls sah es so aus, aber irgendwas in ihren Farben sagte mir, dass sie sich nicht wohl fühlte. Ich gab ihr eine Schachtel Trüffel: sehr dunkle Schokolade mit weißem Überzug. Ich nenne sie Les Hypocrites, die Heuchler.
Joséphine probierte eine Praline. »Phantastisch! Du kannst es noch genauso gut wie früher. Denk bloß, was du alles erreichen könntest, wenn du nur …« Sie biss sich so fest auf die Zunge, dass ich es hören konnte.
Wenn ich was? Für immer hierherzog? Hatte sie das sagen wollen? Und wieso verstörte sie der Gedanke so?
»Bloß nicht aus der Übung kommen. Und ich dachte, du hast vielleicht Lust auf Pralinen.«
Das Café war ziemlich leer, nur ein paar Tische waren besetzt. Marie-Ange spähte durch den Perlenvorhang, der das Hinterzimmer abtrennte. Ich trank meine Schokolade. Sie war gut. Nicht so gut wie meine, aber trotzdem.
Joséphine schaute zum Vorhang, hinter dem Marie-Ange ihr ständig Zeichen gab.
»Entschuldige, Vianne, ich muss leider weg. Ich habe noch was zu erledigen.«
»Stimmt irgendetwas nicht?«
Sie schüttelte den Kopf. Ihr Lächeln brachte nur die Oberfläche zum Leuchten, darunter verbarg sich tiefe Besorgnis.
»Nein, nein. Trinkt in Ruhe eure Schokolade aus. Aber du weißt ja, die Pflicht ruft.«
Ich blickte mich noch einmal um. Zwei Jugendliche, die diabolo menthe tranken. Poitou, der eine Kleinigkeit aß, bevor er die Bäckerei wieder öffnete. Joline Drou und Bénédicte Acheron, die schwarzen Kaffee
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