Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)
ihr an, aber erst als sie sich hingesetzt hatte.
»Danke, Madame Rocher«, murmelte er leise, damit Joline und Bénédicte ihn nicht hörten. »Ich habe es bei Monsieur le Curé zu Hause versucht, aber er redet mit niemandem, nicht mal durch den Briefschlitz.«
»Durch den Briefschlitz?«
»Ja, ja«, versicherte mir Charles. »So hat er in letzter Zeit die Beichte abgenommen. In der Kirche darf er es ja nicht mehr. Seit Père Henri das Sagen hat.«
»Dieser Perversling!«, rief Henriette. »Wissen Sie schon, dass er sich im Beichtstuhl versteckt hat, als ich das letzte Mal in der Kirche war? Er hatte sich sogar als Priester verkleidet, pardi!«
»Père Henri ist doch Priester«, sagte Charles.
»Eigentlich dürfte so ein Perversling gar nicht zugelassen werden«, schimpfte Henriette.
Charles nahm noch eine Praline, vermutlich, um seine Nerven zu beruhigen. »Sehen Sie, wie sie sich benimmt?«, zischte er mir zu. »Je eher wir Otto finden, desto besser. Ich glaube, er hat einen beruhigenden Einfluss auf sie.«
»Ich finde ihn. Versprochen«, sagte ich zu den beiden.
Aber ihre Worte hatten meine eigenen Zweifel wieder geweckt. Irgendetwas stimmte nicht mit Francis Reynaud. Er blieb zu Hause, weil er Angst hatte, angegriffen zu werden, er nahm die Beichte durch den Briefschlitz ab, er erschien mir im Schokoladendampf und benahm sich so seltsam, dass Caro Clairmont ungestraft verbreiten durfte, er sei verrückt geworden –
Ich rief nach Rosette und Bam und nahm die restlichen Trüffel mit. Die Unruhe, die schon die ganze Zeit an mir nagte, war jetzt so stark, dass ich unbedingt etwas unternehmen musste. Ich machte mich auf den Weg zu Reynauds Häuschen in der Rue des Francs Bourgeois und klopfte. Keine Antwort. Die Fensterläden waren offen, und als ich hineinschaute, konnte ich kein Lebenszeichen entdecken. Nochmals versuchte ich es an der Tür. Nichts. Dann drehte ich den Türknauf.
Die Tür war nicht abgeschlossen. Eigentlich keine Überraschung, denn in Lansquenet gibt es so gut wie keine Kriminalität. Vor ein paar Jahren gab es ein paar Einbrüche, das weiß ich von Narcisse. Wie sich herausstellte, steckte einer der Acheron-Cousins dahinter, aber seit er geschnappt wurde, ist nichts mehr passiert.
Das Haus war leer, das wusste ich sofort. Man merkt so etwas am Echo der Schritte. Es roch ganz schwach nach verbranntem Toast, und die Räume waren seit gestern nicht mehr gelüftet worden. Ich ging ins Schlafzimmer. Das Bett war abgezogen, die Kissen lagen gestapelt auf der Matratze. Alles sauber und aufgeräumt. Die Pflanzen waren erst kürzlich gegossen worden, in der Küche stand kein schmutziges Geschirr herum, die Plastikschüssel in der Spüle war sorgfältig umgedreht worden. In der Waschküche lag ein Haufen Bettwäsche. Das Badezimmer war genauso leer wie die Küche: keine Handtücher über der Stange, keine Zahnbürste auf dem Glasbord.
War Reynaud fort? Konnte das sein?
Ich ging zurück ins Wohnzimmer, wo Rosette stillvergnügt spielte. Ihr leises Gemurmel und das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims waren die einzigen Lebenszeichen im ganzen Haus. Manche Menschen lassen einen Teil von sich selbst in dem Haus zurück, in dem sie gewohnt haben. Von Francis Reynaud allerdings gab es keine Spur, keinen Fußabdruck, keinen Schatten, nicht mal einen Geist.
»Wo kann er hingegangen sein?«, fragte ich mich selbst.
Rosette blickte auf und gurrte.
»Bam!« Das war eine Aufforderung, mit ihr zu spielen.
Ich schüttelte den Kopf. »Nicht jetzt, Rosette. Ich muss nachdenken. Wo würde er hingehen, ohne uns Bescheid zu sagen?«
Zum Fluss, gebärdete Rosette sofort, als wäre das völlig klar.
Zum Fluss. Bei dem Gedanken fröstelte mich. Eine ganze Woche regnete es jetzt schon, und der Fluss war so angeschwollen, dass er richtig gefährlich war. Hatte mich der alte Mahjoubi nicht vor dem Wasser gewarnt? Plötzlich hatte ich eine quälende Vision: Reynaud, wie er am Brückengeländer stand und ins Wasser starrte.
Hatte Caro doch recht mit ihrem Nervenzusammenbruch? War der Stress der letzten Wochen zu viel für ihn geworden, hatte er ihn etwa in den Selbstmord getrieben? Nein, das konnte nicht sein. Dafür war er nicht der Typ. Und andererseits –
Die Menschen ändern sich, flüsterte meine Mutter aus der Dunkelheit heraus. Du hast dich doch auch verändert, oder? Du und Roux und Joséphine …
Jetzt meldete sich Armande: Du hast versucht, mich zu retten, nicht wahr? So wie du deine Mutter retten
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