Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)
nicht. Man braucht nicht einmal ein Zuckerthermometer, nur Zeitgefühl. Man muss spüren, wann der Zucker das richtige Stadium erreicht hat und nach einem Löffel Sahne, einem Hauch Zimt, einem Spritzer Cointreau verlangt.
»Ich habe Omi Al-Djerba versprochen, ein paar Pralinen für sie zu machen. Und für den alten Mahjoubi. Und dann noch für Guillaume und Luc Clairmont.«
»Und für Joséphine und Pilou«, ergänzte Anouk.
»Pilou!«, trötete Rosette.
»Und natürlich auch ein paar für Jeannot.«
Anouk strahlte mich an. »Natürlich!«
Ich weiß, was das heißt. Noch so ein Faktor, der die Dinge hier kompliziert werden lässt. Noch ein Hindernis auf dem Weg nach Hause, nach Paris. Bis jetzt war ich so mit meinen eigenen Dingen beschäftigt, dass ich mich kaum um Anouk gekümmert habe, aber aus ihrer verhalten fröhlichen Reaktion schließe ich, dass sie mehr an Jeannot Drou denkt, als sie mir gegenüber zugeben will. Auch das hat der Schwarze Autan gebracht, diesen Schatten. Ich weiß, dass da etwas ist, aber im Augenblick fühle ich mich außerstande, mich diesem Etwas zu stellen. Ich weiß noch genau, wie ich mit fünfzehn war. Andererseits habe ich zwanzig Jahre gebraucht, um den Unterschied zwischen Sex und Liebe zu begreifen. Ich war zu jung. Anouk ist zu jung. Ich habe nie auf jemanden gehört. Und sie tut das bestimmt auch nicht.
Ich widmete mich lieber wieder den Pralinen. Bei Schokolade weiß man, was man hat. Wenn man sich nicht ans Rezept hält, verbrennt sie. Die Liebe hingegen ist beliebig, strukturlos, ansteckend wie die Pest. Zum ersten Mal, seit Alyssa hier ist, empfinde ich fast Mitleid mit Saïd und Ismaila Mahjoubi. Eine Tochter haben sie schon verloren. Und sie sind kurz davor, die zweite zu verlieren. Während ich mich mit meinen Trüffeln beschäftige, die Schokolade zerkleinere und in der Pfanne schmelze, einen Tropfen Cointreau nach dem anderen hinzugebe, frage ich mich, ob sie das auch so sehen. Haben sie gemerkt, wie die Liebe ihnen die Tochter stiehlt und sie unaufhaltsam in die Umlaufbahn eines anderen gerät? Oder haben sie nicht hingeschaut, und die Warnsignale sind ihnen entgangen?
Ich muss mich noch einmal mit Joséphine treffen. Und mit Inès Bencharki. Nur so kann ich die Antworten auf die Fragen finden, die mich hier festhalten. In dem Dampf, der aus der Pfanne aufsteigt, sehe ich jetzt ihre Gesichter: Joséphines Augen schauen mich aus Inès Bencharkis Schleier an. Die Königin der Kelche in ihrem schwarzen Gewand, die das bittere Gebräu bis zur Neige austrinkt –
Die Mischung verströmt einen intensiven Duft. Zimt und Zitrone. Kurz dreht sich mir der Kopf, bunte Farben wirbeln durch die Schwaden. Wahrsagen mit Schokolade ist relativ ungenau, meist näher am Traum als an der Wirklichkeit, da steigen Phantasiebilder auf, mit denen ich nicht unbedingt etwas anfangen kann. Die Bilder flattern davon wie dunkles Konfetti, flüchtige Fragmente, die kurz aufleuchten und dann wie Funken verglühen. Einen Augenblick lang glaube ich Roux zu sehen, dann erkenne ich Reynaud, der mit gesenktem Kopf am Tannes entlanggeht. Reynaud als Landstreicher, unrasiert und bleich, über der Schulter einen Rucksack mit einem kaputten Lederriemen. Was hat das zu bedeuten? Wieso Reynaud? Welche Rolle spielt er bei dem Ganzen?
Die Schokoladenmischung ist jetzt so weit. Zehn Sekunden länger, und sie würde verbrennen. Ich nehme den Kupferkessel vom Herd. Sofort verzieht sich der Dampf, und mit ihm verschwinden auch die wirbelnden Farben und die Ahnung, dass sich etwas Wichtiges offenbaren will. Vielleicht sollte ich heute bei Reynaud vorbeischauen. Oder morgen. Ja, morgen reicht. Es eilt ja nicht. Reynaud ist nicht meine größte Sorge. Andere Leute brauchen mich dringender.
4
Mittwoch, 25. August
In dem Moment hätte ich gehen sollen, père. Aber auf den Straßen waren schon viele Leute unterwegs, alle strebten in Richtung Moschee. Also blieb ich hinter den Bäumen stehen, auf der einen Seite der Boulevard, auf der anderen der Fluss. Ich schaute immer wieder zu dem Hausboot in der Flussbiegung. Es erinnerte mich an die Zeiten der Flussratten, und jetzt, da ich wusste, wer darin wohnte, quälten mich ganz gemischte Gefühle.
Die Flussleute haben in Lansquenet schon immer für Unruhe gesorgt. Sie zahlen keine Steuern, sie haben keinen festen Wohnsitz und bleiben so lange, wie es ihnen passt. Sie arbeiten, wann sie wollen und nur so viel sie müssen. Nicht alle sind unehrlich, aber es ist
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