Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)
Reynaud?
Ist das möglich? Auf den ersten Blick mögen sie ein merkwürdiges Paar sein, aber sie haben einiges gemeinsam. Beide sind verletzt worden, beide wirken distanziert und verschlossen. Beide sind der unermüdlichen Gerüchteküche von Lansquenet ausgesetzt gewesen. Beide besitzen besondere Eigenschaften, deren sie sich nicht bewusst sind: Beharrlichkeit, Willensstärke und die Entschlossenheit, den Gegner auf keinen Fall gewinnen zu lassen.
»Du hast ihn gern, stimmt’s?«
Joséphine schaute weg.
»Weißt du, wo er ist?«, fragte ich sie.
Sie schüttelte den Kopf. »Er ist einfach verschwunden. Ich weiß nicht, wohin. Aber sie hat etwas damit zu tun.« Sie deutete mit einer Kopfbewegung zur alten Chocolaterie. »Diese Frau. Und die Leute aus Les Marauds.«
Nach und nach nahm die Geschichte Gestalt an. Das Graffito auf der Tür von Monsieur le Curé, sein missglückter Versuch, die Chocolaterie zu renovieren, der Überfall am Sonntagabend und die Warnung, die er erhalten hatte.
Dies ist ein Krieg. Halt dich da raus.
Ein Krieg, so sehen sie das also. Und wer sind die kriegführenden Parteien? Die Kirche? Die Moschee? Der Schleier? Die Soutane? Oder handelt es sich um den traditionellen Krieg der Einwohner von Lansquenet gegen die Außenseiter, die Flussratten, die Randexistenzen und jetzt gegen die Menschen aus Les Marauds – »die Eindringlinge«, wie es wörtlich heißt? Obwohl der Name eigentlich nur eine Verballhornung des Wortes marais, Marschland, ist, denn der Ortsteil liegt direkt am Tannes und wird regelmäßig überflutet.
Der Gedanke an Reynaud ließ mich nicht los. Haben sie ihn durch die Androhung weiterer Gewaltakte vertrieben? Das kann man sich bei Monsieur le Curé nicht vorstellen. Er ist genauso stur wie ich. Und er ist wie ein Fels, der Wind erschüttert ihn nicht.
Wo steckt er nur? Irgendjemand muss es wissen. Jemand muss gesehen haben, wie er wegging. Wenn nicht hier, dann in Les Marauds, denn von dort führt die Straße direkt zur autoroute. Da fiel mir wieder ein, was ich an dem Tag, als ich die Pralinen gemacht habe, im Dampf sah: Reynaud, der allein mit einem Rucksack am Flussufer entlanggeht.
War es eine Vision kommender Ereignisse, oder ist es schon geschehen? Und wo befindet er sich in diesem Moment? Schläft er irgendwo im Straßengraben? Liegt er erschlagen in einem Hinterhof? Ich hätte nie gedacht, dass es mich einmal kümmern würde, wie es Francis Reynaud ergeht. Aber angesichts dieser Möglichkeiten interessiert es mich. Sehr sogar.
»Wir werden ihn finden«, sagte ich, zu mir selbst und zu Joséphine. »Wir finden ihn und bringen ihn nach Hause. Egal, wo er ist. Das verspreche ich dir.«
Sie lächelte ihr trauriges und zugleich hoffnungsvolles Lächeln. »Wenn du so etwas sagst, glaube ich fast, dass alles möglich ist.«
»Alles ist möglich«, sagte ich. »Und jetzt komm mit.«
Wir überquerten die Brücke nach Les Marauds.
4
Donnerstag, 26. August
Ich blickte in die strahlenden braunen Augen, die mich durch das Gitter musterten. Was konnte Maya von mir sehen? Wahrscheinlich nicht viel – einen verschwommenen, bleichen Fleck, eine Hand, die aus dem Dunkel ragt. Mein Instinkt riet mir, um Hilfe zu rufen, aber das Mädchen war noch sehr klein, und ich befürchtete, sie könnte weglaufen, wenn ich sie erschreckte.
»Maya. Hab keine Angst«, sagte ich, so sanft ich nur konnte.
Sie kniete sich hin, um besser durch das Gitter spähen zu können. Ich sah ihre Knie auf dem steinigen Untergrund und ihre Strümpfe über den rosaroten Gummistiefeln.
»Bist du ein Dschinn?«, fragte sie noch einmal. »Dschinns leben in Höhlen.«
»Nein, Maya, ich bin kein Dschinn.«
»Was machst du dann da unten?«, fragte sie. »Hast du was Böses getan? Mein jiddo sagt, wenn man was Böses tut, steckt einen die Polizei ins Gefängnis.«
»Nein, Maya, ich habe nichts Böses getan. Jemand hat mich hier eingesperrt.«
Ihre Augen wurden noch größer vor Staunen. »Du bist doch ein Dschinn. Du weißt, wie ich heiße und alles.«
Ich versuchte es mit einem besonders einschmeichelnden Tonfall. »Bitte, Maya, hör mir zu. Ich bin kein Dschinn, und ich habe nichts Böses getan. Aber ich bin hier gefangen. Ich brauche deine Hilfe.«
Sie rümpfte die Nase. »So was würde ein Dschinn auch sagen. Dschinns lügen immer.«
»Aber ich lüge nicht!« Ich hörte selbst die Panik in meiner Stimme und bemühte mich, ruhiger zu sprechen. »Bitte, Maya. Hilf mir. Willst du mir
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