Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)
als die Gerüchte uns weismachen. Und sie ist jung, unglaublich jung, und besitzt die unbewusste Arroganz der Jugend, den Blick einer Person, die nicht glaubt, dass sie je alt wird oder stirbt und ihre Träume aufgeben muss. Anouk hat diesen Blick. Ich hatte ihn auch einmal.
Ich versuchte den duftenden Wasserdampf zu formen, ihn mit den Fingern zu gestalten. Der spätsommerliche Duft war klar und voll süßer Wehmut. Ich sah wieder die Karten meiner Mutter, sah sie vor meinem geistigen Auge: die Königin der Kelche, der Ritter der Kelche, die Liebenden und der Turm –
Der Turm. Vom Blitz getroffen und halb in Trümmern, wirkt er viel zu wenig standhaft, als dass er je ein richtiges Bollwerk gewesen sein könnte. Ein Türmchen eher, dekorativ und fensterlos. Wer – oder was – ist der Turm?
Hier am Ort haben wir ja zwei Türme. Den Turm von Saint-Jérôme: ein gedrungener Kirchturm auf einem kleinen weiß getünchten Quader. Und das Minarett – der ehemalige Schornstein, den jetzt ein silberner Halbmond krönt. Welches ist der Turm auf der Karte? Der Kirchturm oder das Minarett? Welcher der beiden wurde vom Blitz getroffen? Welcher wird stehen bleiben, welcher wird fallen?
Abermals versuchte ich den Dampf zu deuten. Der Geruch nach Minze wurde stärker.
Und wieder sah ich Francis Reynaud am Ufer entlangwandern, tief in Gedanken versunken, den Rucksack in der Hand, die Schultern gegen den Regen nach vorn gebeugt. Und da war etwas zu seinen Füßen: ein Skorpion, schwarz und giftig. Er hob ihn auf. Und ich dachte: Wenn Inès der Skorpion ist, könnte dann Reynaud der Büffel sein? Und bin ich zu spät dran, um die beiden vor dem Ertrinken zu bewahren?
Ich merkte, dass Zahra mich misstrauisch beobachtete. »Was machst du da?«
»Ich versuche zu verstehen«, antwortete ich. »Deine Freundin wird vermisst. Mein Freund ebenfalls. Wenn du irgendetwas weißt, was weiterhelfen könnte …«
»Nein«, antwortete Zahra. »Dies ist ein Krieg. Es tut mir leid, dass du in ihn verwickelt bist.«
Ich musterte sie fragend. »Was für ein Krieg?«
Sie zuckte die Achseln und zog sich wieder hinter ihren Schleier zurück. Ihre Farben hüpften und tanzten.
»Ein Krieg, den wir nie gewinnen können, ein Krieg zwischen Männern und Frauen, zwischen Alt und Jung, Liebe und Hass, Ost und West, Toleranz und Tradition. Niemand ist schuld daran. Keiner will diesen Krieg, aber es gibt ihn nun mal. Ich wollte, es wäre anders.« Sie hielt mir die silberne Teekanne hin. »Hier, nimm. Ich bringe die Tassen.«
»Zahra. Warte. Wenn du etwas weißt …«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich muss zurück. Das mit deinem Freund tut mir leid.«
10
Donnerstag, 26. August
Nachts regnete es zweimal. Als ich den ersten Regen in der Gasse über meiner Zelle hörte, wünschte ich mir, ich hätte noch Trinkwasser in meiner Flasche. Beim zweiten Guss drang erneut Wasser aus dem kaputten Rohr, was bedeutete, dass der Fluss wieder stieg. Irgendwie schaffte ich es in meinen Mantel gehüllt trotzdem, eine Weile zu schlafen. Aber jetzt sind meine Füße nass und eiskalt. Für ein heißes Bad würde ich meine Seele verkaufen.
Meine Uhr ist stehengeblieben. Vielleicht hat sich durch die Feuchtigkeit die Batterie entladen. Der Ruf des Muezzins, die Fitness-Geräte und das ferne Läuten der Glocken von Saint-Jérôme vermitteln mir allerdings eine ziemlich genaue Vorstellung von der Uhrzeit. Deshalb kann ich auch mit Sicherheit sagen, dass irgendwann zwischen zehn und elf die Tür zu meinem Kellerraum aufgeschlossen wurde und Karim Bencharki erschien, diesmal allein. Mit ihm wehte eine Kif-Wolke herein. Er wirkte wütend und aufgebracht.
Gnadenlos richtete er den Strahl der Taschenlampe auf meine Augen und herrschte mich an: »Wo ist meine Schwester?«
Ich versuchte ihm klarzumachen, dass ich das nicht wusste. Aber in seiner Wut hörte er gar nicht richtig zu.
»Was haben Sie zu ihr gesagt? Was haben Sie an dem Vormittag getan? Was haben Sie gesagt?«
»Gar nichts habe ich gesagt. Ich habe wirklich keine Ahnung, wo Ihre Schwester ist.«
»Lügen Sie mich nicht an. Ich weiß, dass Sie sie ausspioniert haben.« Sein Tonfall war scharf wie eine Rasierklinge. »Was haben Sie am Fluss gesehen? Welche Lügengeschichten hat Alyssa Ihnen aufgetischt?«
»Bitte!« Gott, wie ich dieses Wort hasse. »Das Ganze ist ein schreckliches Missverständnis. Lassen Sie mich frei, und ich helfe Ihnen, so gut ich nur kann. Aber ich muss hier raus.«
Er starrte mich an.
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