Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)
»Sie sind hungrig und durstig, was?«
»Ja, allerdings. Bitte, lassen Sie mich frei. Dann klären wir alles. Wenn Inès verschwunden ist …«
»Was haben Sie gesehen?«
»Das habe ich Ihnen doch gesagt. Ich habe gar nichts gesehen. Warum?«
Er ächzte frustriert. »Ha! Seit meine Schwester hier ist, haben Sie sie keine Minute in Ruhe gelassen. Sie haben sie von der Kirche aus belauert. Ihr Fragen gestellt. So getan, als wollten Sie ihr helfen. Was hat sie Ihnen erzählt? Was wissen Sie?«
»Überhaupt nichts. Ich weiß nur, dass Ihre Schwester mich genauso hasst, wie Sie mich hassen.«
Er glaubte mir nicht, das spürte ich. Aber warum nicht? Wovor hatte er Angst? Welches Geheimnis hüteten die beiden? Mir fiel ein, was Sonia gesagt hatte. Er geht manchmal nachts zu ihr. Sie hat ihn verhext. Er steht unter ihrem Bann. Ich habe diese Mitteilung als das Hirngespinst einer eifersüchtigen Frau abgetan. Inès ist doch Karims Schwester. Nur was, wenn das gar nicht stimmt, père? Woher wissen wir überhaupt, wer sie ist?
»Sie ist nicht Ihre Schwester, stimmt’s?«
Schweigen. »Wer hat Ihnen das gesagt?«
»Ich habe es erraten.«
Wieder eine Pause, diesmal länger. Dann schien Karim eine Entscheidung zu treffen. Er knipste die Taschenlampe aus. Ich blinzelte, um seinen Gesichtsausdruck zu erkennen. »Ich gebe Ihnen noch eine einzige Chance«, sagte er eisig, mit veränderter Stimme. »Wenn ich das nächste Mal komme, bringe ich meine Freunde mit. Die Freunde, die Sie am Sonntagabend kennengelernt haben, vor Ihrem Haus. Dann werden Sie mir alles verraten. Sonst …« Er klang noch kälter und distanzierter. »Wir können es wie einen Unfall aussehen lassen. Als wären Sie ertrunken. Niemand wird die Wahrheit herausfinden. Niemand wird sich dafür interessieren – Sie sind hier nicht gerade beliebt. Kein Mensch wird Sie suchen.«
Und damit schloss er die Tür hinter sich und ließ mich in der Dunkelheit zurück.
Er will mir Angst einjagen, das weiß ich, père. Ich habe keine Angst. Karim ist kein Mörder. Er mag für den Überfall am Sonntagabend verantwortlich sein, aber das ist nicht dasselbe wie Mord. Und doch –
Niemand wird die Wahrheit herausfinden. Niemand wird sich dafür interessieren. Kein Mensch wird Sie suchen. Das stimmt, père. Wer vermisst mich schon, wenn ich für immer verschwinde?
Etwa eine Stunde später öffnete sich die Kellertür erneut. Ich sprang auf, weil ich natürlich Karim und seine Freunde erwartete. Stattdessen stand eine schwarz verschleierte Frau in der engen Türöffnung.
»Wenn Sie zu fliehen versuchen, schreie ich.« Ich erkannte die Stimme nicht. Aber da die verschleierten Frauen sonst nicht reden (außer untereinander natürlich), hätte ich das auch nicht erwartet. Dass sie jung war, konnte ich allerdings hören. Und sie sprach fast ohne Akzent.
Ich starrte sie verzweifelt an. »Was wollen Sie?«
Sie hielt eine Pappschachtel in der Hand.
»Ich bringe Ihnen Wasser und etwas zu essen«, sagte sie. »Ich stelle alles auf die oberste Stufe. Wenn Sie die Verpackung verstecken, merken Karim und die anderen nicht, dass ich hier war.«
»Karim weiß das nicht?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich dachte, Sie haben sicher Hunger.«
»Dann lassen Sie mich doch bitte hier raus!«, flehte ich sie an. »Bitte! Ich schwöre …«
»Tut mir leid. Ich bin nur gekommen, um Ihnen etwas zu essen zu bringen.«
Es war eine Suppe in einem Styroporbecher, wie ich herausfand, als die Frau weg war. Dazu Brot, Oliven und in Wachspapier eingewickelte getrocknete Feigen, Wasser in einer Plastikflasche und irgendein süßes Gebäck. Ich aß alles auf, trank die Flasche leer und versteckte dann Schachtel, Papier und Flasche in einer der Kisten.
Ich muss hier raus, dachte ich, und zwar bevor Karim und seine Freunde zurückkommen. Die Frau in Schwarz, die mir das Essen gebracht hat, war das Sonia? Vielleicht. Aber Sonia hätte ich erkannt. Weiß sie überhaupt, dass ich hier bin? Wenn sie es weiß, hat sie bestimmt ein schlechtes Gewissen, und vielleicht wird sie beim nächsten Mal –
Falls es ein nächstes Mal gibt. Womöglich war das gerade meine letzte Mahlzeit. Das Henkersmahl eines Verurteilten. Wenn nur Maya zurückkäme …
Herr im Himmel! Ist meine Lage so aussichtslos? Maya ist alles, was mir noch bleibt. Mein letztes bisschen Hoffnung liegt in den Händen einer Fünfjährigen. Wird sie sich an ihr Versprechen erinnern, père? Oder hat sie das Spiel schon längst
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