Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)
richtig. Wir wollen während der Festzeit keinen Streit, keine Konflikte. Aber wir möchten, dass Sie unsere Gebräuche respektieren und sich fernhalten.«
Karim sprang auf das Deck des Bootes und spähte in die Küche.
»Entschuldigen Sie bitte, das ist mein Boot«, sagte Roux.
Karim starrte ihn verdutzt an. »Ihr Boot?«
Ich ging wieder hinauf auf den Steg. »Inès ist gestern sicher und wohlbehalten zurückgekommen«, sagte ich. »Ist sie nicht bei Ihnen?«
Mit ausdrucksloser Miene entgegnete Karim: »Nein, bei uns ist sie nicht. Wollen Sie allen Ernstes behaupten, dass sie wieder im Dorf ist?«
Roux erzählte seine Geschichte. Während die anderen ihm zuhörten, nutzte ich die Zeit, um Alyssa zu fragen: »Ging’s gut gestern?«
Sie schüttelte den Kopf. »Sie reden nicht mit mir. Weil ich angeblich Schande über die Familie gebracht habe.«
»Sie werden schon zur Vernunft kommen«, tröstete ich sie leise. »Was ist mit Karim?«
»Die Sache mit Karim ist für mich erledigt.«
»Das ist doch immerhin etwas.«
»Er wollte mich unter vier Augen sprechen. Aber ich habe ihm gesagt, dass ich das nicht will.«
»Und was ist mit deiner Schwester?«
Alyssa zuckte die Achseln. »Ich glaube, ihr ist übel von der Schwangerschaft. Sie redet fast nicht mit mir, aber ich merke, wie erschöpft sie ist.«
Ich schaute zu Sonia hinüber, die allein dastand und auf den Fluss hinausschaute. Eine tiefe Wehmut ging von ihr aus, und als ich mich ihr näherte, konnte ich sehen, dass in ihren Augen Tränen schimmerten.
»Was ist los?«, fragte ich.
Sie schaute mich überrascht an. Der niqab bewirkt offenbar, dass die Frauen, die ihn tragen, das Gefühl bekommen, unsichtbar zu sein. Dadurch wird jeder Kontakt mit Fremden verhindert. Sonias Augen – mit Kajal umrandet und wunderschön – wichen meinem Blick aus.
»Sie sind Vianne Rocher, stimmt’s?«, fragte sie. »Alyssa hat mir von Ihnen erzählt.« Sie sprach monoton, und man ahnte eine gewisse Selbstzensur.
Ich lächelte ihr zu. »Wie schön, dass ich Sie kennenlerne«, sagte ich. »Ich hoffe, Sie und Ihre Schwester kommen uns bald besuchen.«
Wieder der erstaunte Blick. Sonia Bencharki ist es nicht gewohnt, dass eine Frau, die sie nicht richtig kennt, ganz beiläufig eine Einladung ausspricht. Unter ihrem Schleier kreisten ihre Farben wie ein kränkliches und zugleich schrill quietschendes Karussell. Irgendetwas belastete dieses Mädchen. Da war ganz viel Trauer und Angst, und vielleicht auch ein schlechtes Gewissen.
Ich merkte, dass Karim mich vom Boot aus beobachtete. Irgendwie schien es ihn zu beunruhigen, dass Sonia und ich uns unterhielten. Sonia spürte seinen Blick ebenfalls und entfernte sich ein paar Schritte von mir. Aber ich folgte ihr.
»Bitte, ich kann nicht mit Ihnen sprechen.« Ihre Stimme war kaum zu hören.
»Warum nicht?«
»Tut mir leid, es geht nicht. Bitte lassen Sie mich in Ruhe.«
Ich gab auf. Es waren zu viele Leute da, hier konnte ich nicht versuchen, ihre Abwehr zu durchbrechen. Zahra sagte: »Sie ist schüchtern, sonst nichts. Eigentlich ist sie richtig nett.«
Genau wie Alyssa, dachte ich. Oder jedenfalls die Alyssa vor Karim Bencharki. Ich blickte wieder zu ihm. Er stand noch auf dem Steg und redete mit Roux. Wie war es möglich, dass ein einzelner Mann so viel Macht über diese kleine Gemeinde haben kann? Klar, er sieht gut aus. Er ist charmant. Und nach allem, was Caro Clairmont sagt, hat er viel dafür getan, Les Marauds ins einundzwanzigste Jahrhundert zu holen. Durch seinen Einfluss auf Saïd ist die Moschee progressiver geworden, und durch den Umbau des Gyms haben die jungen Männer in seinem Umfeld einen Treffpunkt. Umso merkwürdiger, dass seine Schwester ein so traditionelles Frauenbild verkörpert. Doch es könnte natürlich auch sein, dass der Tratsch stimmt und der Schleier, den Inès so konsequent trägt, nur Fassade ist und sich hinter ihrer demonstrativen Keuschheit etwas ganz anderes verbirgt.
Aber was ich neulich abends mitbekommen habe – und heute Morgen wieder –, legt den Verdacht nahe, dass auch Karim eine dunkle Seite hat: die Art, wie er Alyssa behandelt, der mangelnde Respekt gegenüber dem alten Mahjoubi, sein arroganter Umgang mit Roux. Außerdem wissen wir, dass er nicht treu ist. Allmählich frage ich mich, ob er nicht vielleicht noch zu viel mehr fähig ist. Seine aggressiven Neigungen sind unübersehbar. Wird er unter Umständen auch richtig gewalttätig? Hat Sonia womöglich Angst vor ihm? Und
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