Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)

Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)

Titel: Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
Vom Netzwerk:
eine Woche und blieb einen Monat, und unversehens blieb sie auf Dauer hier, und alles veränderte sich.« Er seufzte tief, bevor er fortfuhr: »Ich mache mir oft Vorwürfe. Ich hätte es wissen müssen. Aber die Söhne des alten Mahjoubi waren beide so westlich. Ismail geht nur zu besonderen Anlässen in die Moschee, und Saïd war auch alles andere als radikal. Karim Bencharki wirkte noch viel westlicher als die beiden. Und wenn man sich die Familie jetzt ansieht – eine Tochter mit achtzehn verheiratet, die andere springt mitten in der Nacht in den Fluss. Und diese Frau und ihre Schule, die den Mädchen im Namen der Religion Gott weiß was beibringt.«
    »Meinen Sie, es geht hier um Religion?«, fragte ich.
    Reynaud schien verdutzt zu sein. »Worum denn sonst?«
    Verständlich, dass er so dachte. Die Religion ist schließlich sein Beruf. Er teilt die Menschen in verschiedene Kategorien ein, in »Stämme«: Katholiken, Protestanten, Hindus, Juden, Moslems. Und es gibt noch viele andere Stämme: die Erwählten, die Verlorenen, die Kämpfenden, die Konvertiten. Und dann natürlich Fußballfans, Rockfans, Parteimitglieder, Leute, die an Außerirdische glauben, Extremisten, Gemäßigte, Verschwörungstheoretiker, Pfadfinder, Arbeitslose, Flusszigeuner, Vegetarier, Krebsüberlebende, Dichter und Punks, und alle diese Stämme haben noch jede Menge immer kleinerer Unterkategorien. Will nicht jeder letzten Endes irgendwo dazugehören?
    Ich habe nie zu so einem »Stamm« gehört. Das ermöglicht mir eine andere Perspektive. Sonst würde ich mich in Les Marauds vielleicht auch nicht wohl fühlen. Ich war immer anders. Vielleicht fällt es mir deswegen leichter, die Grenzen zwischen den »Stämmen« zu überschreiten. Wenn man dazugehört, bedeutet das oft, dass man andere ausschließen muss. Man teilt ein in »wir« und »die anderen« – ein Gegensatzpaar, das immer wieder zu Konflikten führt.
    Ist das in Lansquenet passiert? Es wäre nicht das erste Mal. Außenseiter waren hier noch nie willkommen. Das kleinste bisschen Anderssein, und schon wird man hier abgelehnt. Selbst Leute aus Pont-le-Saôul, nur ein paar Kilometer flussabwärts, werden bis heute misstrauisch beäugt, weil sie Kiwis anbauen und nicht Melonen, rosaroten Knoblauch und nicht weißen, weil sie Hühner züchten statt Enten und zu Saint Luc beten und nicht zu Saint Jérôme.
    »Was soll ich denn nun tun?«, fragte ich ihn.
    »Ich habe gehofft, Sie könnten mit dem Mädchen reden. Sie näher kennenlernen.«
    Begreiflich, dass er da nicht hineingezogen werden will. Das verstehe ich sofort. Seine Position hier ist sowieso schon wackelig. Bei der geringsten Spur eines neuerlichen Skandals ist er seinen Job los. Ich versuchte mir Reynaud berufsmäßig irgendwo anders vorzustellen als in der Kirche, aber das schaffte ich nicht. Reynaud hinter dem Tresen einer Bar, als Lehrer in einer Schule, als Busfahrer, vielleicht auch als Zimmermann. Da musste ich auf einmal an Roux denken und dann auch an Joséphine und an alles, was jetzt zwischen uns steht.
    »Sie wollten uns doch noch nicht verlassen?«, fragte Reynaud. Das leichte Beben in seiner Stimme verriet seine Aufregung. Ich dachte wieder an Joséphine und an den komischen Blick in ihren Augen, an die unausgesprochenen Geheimnisse, die nicht gestellten Fragen. Bleibe ich in Lansquenet, dann werde ich diese Geheimnisse aufdecken. Es ist eine Gabe – oder ein Fluch –, wenn man unter die Oberfläche schauen kann. Aber in diesem Fall weiß ich nicht, ob ich es wirklich will. Man muss immer dafür bezahlen, und manchmal ist der Preis viel zu hoch.
    Ja, ein Teil von mir würde am liebsten sofort abreisen. Heute noch, ohne einen Blick zurück. Nach Paris, zu Roux, und dann mein Gesicht an seine Schulter pressen, da, wo es genau passt. Ist das so schwer zu verstehen? Ich gehöre nicht mehr hierher. Was geht es mich an, wenn Francis Reynaud nicht mehr Priester sein darf? Und was geht es mich an, wenn Joséphine einen Sohn hat, der acht Jahre alt ist, gern malt und keinen Vater hat? Das hat alles nichts mit mir und meiner Familie zu tun.
    Und doch –
    Wieder schaute ich Reynaud an. Er machte ein betont neutrales Gesicht. Aber ich konnte seine Anspannung genau sehen, die starren Schultern, den taxierenden Blick der kühlen grauen Augen.
    Ich spürte, dass er nicht überrascht wäre, wenn ich mich weigern würde, ihm zu helfen. Reynaud ist kein Mann, der versteht, was Vergebung bedeutet. Dass er – zudem mich – um

Weitere Kostenlose Bücher