Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)
den Kopf.
»Wirklich nicht? Gar niemanden? Ich würde ihnen nur sagen, dass es dir gutgeht.«
Wieder schüttelte Alyssa den Kopf. »Nein, danke.«
Das war immerhin ein Anfang. Nur zwei Wörter, aber das Schweigen war durchbrochen.
»Gut. Ich verstehe. Keiner soll wissen, dass du hier bist. Curé Reynaud weiß zwar Bescheid, aber er sagt es niemandem. Bei mir bist du in Sicherheit.«
Alyssa nickte zögernd.
Jetzt kommt der schwierige Teil, dachte ich. Was bringt ein Mädchen wie Alyssa dazu – ein hübsches Mädchen aus einer liebevollen Familie –, sich in den Tannes zu stürzen?
»Was ist gestern Nacht passiert, Alyssa?«, begann ich. »Willst du darüber sprechen?«
Alyssa schaute mich mit leeren Augen an. Entweder hatte sie nicht verstanden, was ich meinte, oder die Antwort war so sonnenklar, dass sie nichts erwidern konnte. Ich beschloss, keine weiteren Fragen zu stellen – jedenfalls bis morgen.
Ich schaltete um auf munter. »Okay, kein Problem«, sagte ich lächelnd. »Du bist jetzt erst mal unser Gast. Das Haus hier gehört Luc Clairmont. Früher hat seine Großmutter hier gewohnt.«
Jetzt nickte Alyssa wieder.
»Kennst du ihn?«
Mir fiel wieder ein, dass jemand – war es Reynaud? Oder vielleicht Joséphine? – erzählt hatte, dass die Mahjoubi-Mädchen früher manchmal mit Luc auf dem Dorfplatz Fußball gespielt haben.
»Weiß er, dass ich hier bin?«, wollte Alyssa wissen.
»Niemand weiß, dass du hier bist«, antwortete ich. »Hier im Haus sieht dich keiner. Wir haben Bücher, einen Fernseher, ein Radio. Brauchst du sonst noch was?«
Alyssa schüttelte den Kopf.
»Ich glaube, es wäre gut, wenn wir unsere Pläne nicht zu sehr ändern. Sonst sieht es eventuell komisch aus. Aber ich versuche, dafür zu sorgen, dass eine von uns – Anouk oder ich – immer in deiner Nähe ist, falls du doch etwas brauchst.«
Alyssa nickte, ohne zu lächeln.
Ich musterte Anouk fragend. Ich wusste, dass sie sich heute wieder mit Jeannot treffen wollte. Sie grinste mich an. »Ist schon gut«, sagte sie. »Wir werden einfach hier rumsitzen und fernsehen und uns schieflachen über die ganzen Reality-Shows.«
»Das gefällt Alyssa garantiert«, sagte ich und zerwuschelte Anouks Haare. »Estlands nächstes Topmodel und Frauen, die ständig Kuchen essen müssen sind gut für die Bildung. Alyssa, wenn du genug hast von Anouk, dann sag ihr einfach, sie soll dich in Ruhe lassen. Okay?«
Wieder diese Spur eines Lächelns, wie der Rand einer Mondsichel. Anouk hat eindeutig etwas an sich, was Alyssa fasziniert. Ich kann nicht behaupten, dass mich das überrascht. Meine kleine Fremde hat schon immer eine Begabung dafür gehabt, Anhänger zu finden. Wenn ich die beiden allein lasse, bekommt Anouk vielleicht etwas heraus, was ich nie erfahren würde.
Ich sagte ihnen noch, sie sollten ein Auge auf Rosette haben, dann ging ich hinunter nach Les Marauds.
3
Donnerstag, 19. August
In Les Marauds war alles still. Die Straßen menschenleer, die Geschäfte geschlossen. Es hätte sechs Uhr morgens sein können und nicht kurz vor halb elf. Die Sonne war heiß, die Luft still und auf fast unheimliche Weise klar.
Nur Saïd Mahjoubis Gym schien heute Vormittag geöffnet zu haben. Ich fragte mich, ob Saïd überhaupt wusste, dass seine Tochter vermisst wurde. Wenn er es wüsste, dann hätte er doch bestimmt sein Studio zugemacht. Aber nichts wies darauf hin, dass mitten in der Nacht ein Mädchen verschwunden war.
Die rote Tür öffnete sich, zwei Männer kamen heraus. Der eine jung, noch keine zwanzig, in einem ärmellosen Hemd und Combat-Shorts. Der andere, Mitte dreißig, war eindeutig einer der schönsten Männer, die ich je gesehen habe. Elegant, auf diese durchtrainierte Art, die man vom Ballett kennt oder vom Kampfsport, helle Olivenhaut, kurzgeschnittene schwarze Haare und ein Mund, orientalisch exakt und unglaublich sinnlich …
»Können wir Ihnen helfen, Mademoiselle?«
Kurz war ich sprachlos. Als ich das letzte Mal hier am Gym vorbeigekommen war, hatte ich offene Feindseligkeit gespürt. Doch dieser Mann war anders, er lächelte mir zu, ich war das Ziel einer entwaffnenden Charmeoffensive.
Der jüngere Mann war schon weg, ich war allein mit dem Fremden. Seine Augen, unter dichten Brauen, glänzten dunkel und seelenvoll, mit einem wunderbaren Goldschimmer.
»Ich bin ein paar Tage zu Besuch hier. Ich heiße Vianne Rocher.«
»Hallo, Vianne Rocher. Ich habe schon von Ihnen gehört. Ich bin Karim
Weitere Kostenlose Bücher