Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)
verdanken?«
Er betrachtete mich mit seinem typisch mitleidigen Blick und folgte mir ins Haus.
»Ich wollte nur nach einem Kollegen schauen«, sagte er. »Der Bischof hat nach Ihnen gefragt.«
Der Bischof. Es wird immer besser. »Und?«
»Er glaubt, dass Sie vielleicht ein bisschen Ruhe brauchen. Er fand nämlich auch, dass Sie nicht gut aussehen.«
»Ich dachte, ich hätte bereits ziemlich viel Ruhe«, entgegnete ich etwas spitz. »Jedenfalls kann ich mich im Moment nicht über ein Übermaß an Gemeindepflichten beklagen.«
Das stimmte: Seit ein paar Wochen werden meine Aufgaben von Père Henri Lemaître übernommen, der außerdem noch drei andere Minidörfer betreut, denen kein eigener Priester zugeteilt ist. Immer weniger junge Männer entscheiden sich für den Beruf des Priesters, und immer weniger Menschen besuchen die Gottesdienste. Lansquenet bildet da eigentlich eine Ausnahme: Hier residiert ein fester curé, der zweimal am Tag die Messe liest und viermal in der Woche die Beichte abnimmt. Andere Dörfer müssen sich damit zufriedengeben, dass man nur am Sonntag die Messe besuchen kann, manchmal sogar nur im Nachbardorf. Kein Wunder, dass die Zahl der Kirchenbesucher sinkt. Der Bischof und seine Leute wollen uns einreden, dass Priester wie Küchengeräte beliebig austauschbar sind. Das mag in Marseille oder Toulouse zutreffen. Aber hier wollen die Menschen ihre eigene Kirche haben und ihren eigenen Priester für die Beichte. Sie wollen das Wort Gottes nicht über irgendeinen himmlischen Telegraphen übermittelt bekommen. Sie wollen es aus dem Mund eines Mannes hören, der so ist wie sie, ein Mann mit Schwielen an den Händen, der ihre Lebensweise kennt und versteht. Ich wüsste gern, wie viele Beichten Père Henri in Lansquenet schon abgenommen hat. Ich meine echte Beichten, nicht wie die von Caro Clairmont, die nur Aufmerksamkeit sucht.
»Ach, mon père, ich habe solche Angst, dass ich unwissentlich eine Sünde begangen habe. Neulich war ich mit Joline Drou zum Einkaufen in Agen, und wir haben uns Sommerkleider angeschaut. Ihnen ist ja sicher schon aufgefallen, dass ich abgenommen habe. Na ja, es ist kein Verbrechen, wenn man gut aussehen will, und manche Frauen lassen sich wirklich gehen – aber ich möchte Sie nicht langweilen, père.«
»Sehr gut.«
»Also, Joline hat ein Kleid gesehen, das ihr gefiel, und ich habe ihr gesagt, dass es ihr nicht steht. Ich meine – es ist Ihnen bestimmt nicht entgangen, père, dass Joline oft Kleider trägt, die für eine Frau ihres Alters viel zu jugendlich sind, ganz zu schweigen davon, dass sie in letzter Zeit doch ein bisschen mollig geworden ist. Ich würde ihr das nicht ins Gesicht sagen, aber ich wäre keine echte Freundin, wenn ich zulassen würde, dass sie sich lächerlich macht, und jetzt habe ich solche Schuldgefühle …«
»Das genügt. Zwei Ave-Maria.«
»Aber, mon père …«
»Bitte, Madame, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.«
Nein. Diplomatie und Schmeichelei sind nicht unbedingt meine Stärken. Ich bin mir sicher, dass Père Henri Lemaître mit ihrem Problem einfühlsamer umgegangen wäre. Ich reagiere oft ungeduldig und schroff. Ich kann meine Gefühle nicht so gut überspielen wie Père Henri Lemaître, ich kann nicht wie er Interesse und Mitleid heucheln oder die Mitglieder meiner Herde so behandeln, als wären sie keine blöden Schafe.
Und trotzdem kenne ich sie besser, als jeder Priester in der Großstadt das könnte. Sie mögen ja Schafe sein, aber sie sind meine Schafe, und ich habe nicht die geringste Absicht, sie an Père Henri abzugeben. Wie soll er sie denn je verstehen, mit seinem Zahnpastalächeln und seiner einnehmenden Art? Wie soll er wissen, dass Alain Poitou eine Hustensaftsucht entwickelt hat und nicht will, dass seine Frau es merkt? Dass Gilles Dumarin sich Vorwürfe macht, weil er seiner Schwester erlaubt hat, ihre Mutter ins Les Mimosas zu bringen? Dass Joséphine Muscat früher gestohlen hat und immer noch glaubt, dass sie dafür Buße tun muss? Dass Jean Marron nach dem Tod seines Sohnes an Selbstmord gedacht hat? Dass Henriette Moisson mit ihren fünfundachtzig Jahren mir jede Woche einen Diebstahl beichtet, den sie mit neun Jahren begangen hat (sie hat ein kleines Etui mit Nähzeug an sich genommen, das ihrer Schwester gehörte, die vor mehr als sechzig Jahren bei einem Bootsunglück auf dem Tannes gestorben ist)? Dass Marie-Ange Lucas mit einem Jungen, den sie überhaupt nicht kennt, Internetsex hat und wissen
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