Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)
deutlich zu verstehen, dass ich seiner Meinung nach meine Gemeinde nicht verstehe. Ich bin kein besonders fortschrittlicher Mann, und nach dem Brand in der alten Chocolaterie kann ich mit einiger Bestimmtheit sagen, dass man mir nicht besonders viel Respekt entgegenbringt. Ist das seine Art, mich zu ködern? Oder will er mir warnend vorführen, dass ich bald ebenfalls ersetzt werde?
»Der Bischof meint, dass eine Versetzung für Sie von Vorteil wäre«, sagte er. »Sie sind schon zu lange in Lansquenet. Sie haben angefangen, die Gemeinde hier als Ihr Eigentum zu betrachten. Sie wenden Ihre eigenen Regeln an, nicht die der Kirche.«
Ich wollte protestieren. Père Henri hob die Hand, um mich zum Schweigen zu bringen.
»Ich weiß, Sie sind anderer Meinung«, sagte er. »Aber vielleicht sollten Sie in Ihre Seele schauen. Und Ihr Gewissen befragen.«
»Mein Gewissen?«, rief ich empört.
Er musterte mich wieder mit diesem herablassenden Blick. »Wissen Sie, Francis – ich darf Sie doch Francis nennen, oder?«
»Das tun Sie doch schon die ganze Zeit.«
»Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, wenn ich ganz offen mit Ihnen spreche«, sagte er. »Aber der Bischof – und andere – haben darauf hingewiesen, dass Ihrem Handeln eine gewisse Arroganz innewohnt …«
»Werde ich deswegen gemaßregelt?« Ich konnte meine Wut kaum noch unterdrücken. »Und ich dachte, es hätte etwas damit zu tun, dass ich angeblich eine Mädchenschule angezündet habe.«
»Das sagt doch niemand, Francis. Niemand sagt, dass Sie gemaßregelt werden.«
»Was sagen sie dann?«
Er stellte seine Tasse weg. »Nichts, bis jetzt. Nicht offiziell. Ich dachte nur, ich warne Sie.« Er lächelte sein Zahnpastalächeln. »Sie tun sich selbst keinen Gefallen, wissen Sie. Vielleicht schickt Gott Ihnen diese Herausforderung als eine Lektion in Demut.«
Hinter dem Rücken ballte ich die Fäuste. »Falls er das tun möchte, dann braucht er Sie garantiert nicht als Dolmetscher.«
Ich hatte den Eindruck, dass Père Henri sich ein wenig ärgerte. »Ich versuche doch nur, Ihr Freund zu sein, Francis.«
»Ich bin Priester. Ich habe keine Freunde.«
Gestern war die Luft erdrückend still. Heute hingegen weht ein trockener, schneidender Wind. Winzige Glimmerteilchen fliegen herum, und ein Geruch, der an kalten Rauch erinnert, erfüllt alles. In der alten Chocolaterie hat Luc Clairmont mit den Reparaturarbeiten begonnen. An einer Hauswand wurde ein Gerüst angebracht, eine Plastikplane bedeckt das Dach. Bei dem starken Wind knattert diese Plane wie ein altes Schiffssegel. Die Frauen auf der Straße halten ihre Röcke fest, Papier flattert durch die Luft, die Sonne ist eine Scheibe aus Alufolie an einem Himmel aus hektischem Staub. Es ist der Weiße Autan, der Wind, der um diese Jahreszeit alles beherrscht. Meistens weht er ein paar Wochen und bringt viele Geschichten und Sprichwörter mit.
Wie ich solche Geschichten früher verabscheut habe! Sie entstammen heidnischer Tradition, pflanzen sich fort wie der Löwenzahn und dringen in den Garten unseres Glaubens ein. Inzwischen habe ich gelernt, sie zu tolerieren, ja ihnen sogar zu trauen. Wir alle können aus Geschichten etwas lernen, seien sie heilig oder profan.
Autan blanc, Autan blanc –
Es gibt ein Sprichwort in diesem Teil des Landes, das sagt, dass der Weiße Autan einen Menschen wahnsinnig macht – oder seine Dämonen vertreibt. Das ist natürlich ein Ammenmärchen. Aber, wie Armande Voizin immer gesagt hat, manchmal lohnt es sich, den Ammen zuzuhören.
Autan blanc, Autan blanc,
Autan en emporte le vent.
Und während ich nun Père Henri nachschaue, der mit gesenktem Kopf gegen den Wind ankämpft, frage ich mich kurz, was passieren müsste, damit der Weiße Autan ihn davonträgt.
5
Freitag, 20. August
Wind macht die Leute gereizt. Jeder Lehrer weiß das. Ja, père, und jeder Priester ebenfalls. Der Weiße Autan hat schon eine ganze Serie von Streitereien, Wutausbrüchen und kleineren Anfällen von Zerstörungswut mit sich gebracht (drei Pflanzenkübel auf dem Platz umgekippt, ein Graffito auf der verkohlten Wand der alten Chocolaterie), was den Verdacht nahelegt, dass der vent des fous dieses Jahr bereits Zugang zum kollektiven Gehirn gefunden und alle in Idioten verwandelt hat.
Caro Clairmont ist eins der Opfer. Bei ihr bringt der Wind die unangenehmsten Seiten ans Tageslicht. Sie ist zuckersüß zu mir, auf diese giftige Art, die ich nur allzu gut kenne. Neulich ist sie vorbeigekommen,
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